Mehr Lucan (Anfang Buch VII)
Segnior, quam lex aeterna vocabat. Ein schlechtes Zeichen: Die Sonne sträubt sich, über dem Ort des Geschehens (des vergangenen wie des zukünftigen) aufzugehen. Oder sind es noch die Nachwirkungen des Zauberbanns der Hexe? Lux rapta, das geraubte Licht, klingt noch nach dem zurückgehaltenen Tag im Ausklang des VI. Buchs. Doch es hat den Anschein, die Sonne habe auch selbst die Absicht, es über Thessalien nicht allzu hell werden zu lassen, wenn es nämlich heißt: ne Thessalico purus luceret in orbe "damit er (Phoebus oder Titan, die Sonne) nicht rein [von Wolken ungetrübt] über dem thessalischen Erdkreis leuchte."
An diesem Morgen, dem letzten des "glücklichen Abschnitts seines Lebens", hat Pompeius einen Traum. Darin sieht er sich selbst in Rom im Theater sitzen und die Zuschauermenge ihm applaudieren und zujubeln. Sei es, kommentiert die Erzählstimme, daß sein Geist am Ende der guten Zeiten, beunruhigt von den Sorgen um das Bevorstehende, ihm noch einmal vergangene Momente des Glücks und Triumphs vorspielt; sei es, daß die momentane Ruhe ihm auf dem Umweg über das Gegenteil dessen, was eintreten wird, den künftigen Jammer prophezeit; oder sei es, daß das Schicksal ihm ("dir", die Erzählstimme schwenkt hier in eine Apostrophe um) noch einmal im Traumgesicht das in der Wirklichkeit für immer versagte Rom schenkt.
Natürlich "weiß" die Erzählstimme schon, wie die Geschichte ausgeht; aber zum einen haben wir es hier mit einem Epos zu tun, und auch wenn dieses keinen mythologischen Stoff behandelt, so zum andern doch einen Stoff, der den Lesern oder Zuhörern bekannt ist. Schließlich geht es beim Epos um das Wie des Erzählens, nicht um das Was. Der Epiker kann vielleicht Handlungsmotive variieren, Charaktere umzeichnen, Handlungen neu bewerten. Keinesfalls kann er die Handlung verändern, etwa Hektor im Kampf gegen Achill siegen, die Trojaner Helena dem Menelaos zurückgeben oder Odysseus als ersten vom Kyklopen gefressen werden und einen der Gefährten Penelope am Ende ehelichen lassen. Wenn Lucan für sein Epos einen historischen Stoff wählt, erhebt er ihn sozusagen zum Mythos. Er könnte Pompeius als Erzgauner, Caesar als Lichtgestalt darstellen (macht er nicht), er könnte Caesar als ein von Zweifeln zerfressenen Schwächling darstellen, der nur mit Hilfe von Marcus Antonius erfolgreich war, oder er könnte aus Pompeius ein Großmaul und einen Angsthasen machen -- was er nicht kann: Pompeius bei Pharsalos siegen lassen. Das wäre zwar interessant für uns zu lesen, gerade auch im Hinblick auf die Frage, wie die Zeitgenossen Lucans über alternative Ausgänge der geschichtlichen Ereignisse ihrer eigenen Zeit spekulierten, und damit auch, wie sie die Möglichkeiten und Zwänge, die treibenden und hemmenden Kräfte ihres Äons beurteilten: Was sie für möglich, wahrscheinlich, unmöglich hielten. Und was sie hofften oder träumten. Nur leider haben wir so ein Werk nicht, denn die alternative history war noch nicht erfunden. Vielleicht war sie es auch, und es ist nur keins dieser Werke auf uns gekommen. Schade.
Jedenfalls: Lucan oder die Erzählstimme weiß, was kommt, und sie macht keinen Hehl daraus, daß es für Pompeius nicht gut ausgehen wird. Und da wir gerade von Alternativen gesprochen haben: Für die Erzählstimme scheint klar, daß Pompeius, wenn er jetzt die Schlacht sucht, einen Fehler macht. Daß die Katastrophe von Pharsalos also nicht unvermeidbar war. Verse wie diese machen das deutlich (VII 58f)
"Habt ihr also, ihr Götter, da ihr nunmal den Vorsatz faßtet, kein Stein auf dem anderen zu lassen, unseren Irrtümern auch noch Verfehlungen hinzufügen wollen?"
Oder hier, als Cicero (ja genau, der) dem Pompeius wegen dessen Unentschlossenheit die Leviten liest und "seine Beredsamkeit der schwachen Sache Stärke verleiht" (VII 67):
Und hier (45--50):
"Die Sonne hatte die Sterne überwunden, da begann die Menge im Lager, durcheinander zu rufen und zu schimpfen und verlangt nach dem Signal zur Schlacht. Das Fatum reißt den Erdkreis mit sich; und der größte Teil des erbarmungswürdigen Fußvolks, der das Ende dieses Tages nicht erleben wird, beklagt sich rings um die Zelte, und indem sich der Eifer der Menge hochschaukelt, beschleunigt sie noch die heraneilende Stunde des unmittelbar bevorstehenden Todes."
Mehr Lucan (und Ende von Buch VI)
Erichtho ruft also die Seele des gefallenen Soldaten in den Körper zurück. Das klappt nicht auf Anhieb, die Seele wehrt sich, sie hat Angst, in den verwundeten Leib zurückzukehren und nicht sterben zu können. Verständlich. Aber es hilft nichts, die Hexe greift zu starken Verfluchungen, und langsam kommt, na ja, nicht Leben, aber zumindest Bewegung in den Leichnam (VI 750--762):
"Sogleich wird das gestockte Blut warm, wärmt auch die schwarzen Wunden, beginnt durch die Adern zu laufen und erreicht die äußeren Gliedmaßen. Unter dem eiskalten Herzen zucken die durchbohrten Eingeweide, ins Mark kriecht verlerntes Leben zurück und mischt sich in den Tod. Jedes Gelenk bebt, die Muskeln spannen sich; aber der Leichnam hebt sich nicht allmählich mit seinen Gliedern vom Boden, sondern steht, wie von der Erde abgestoßen, mit einem Satz aufrecht. Weit reißt er die Augen auf. Noch ist sein Antlitz nicht das eines Lebenden sondern eines Sterbenden: es bleiben ihm die Blässe und die Starre. Daß er der Welt zurückgegeben worden ist, erschreckt ihn. Doch kommt kein Laut über die steifen Lippen, denn Stimme und Sprache sind ihm nur zum Antwortgeben verliehen."
Der Rest von Buch VI besteht aus den Weissagungen der zurückgeholten Seele. Nebenbei erfährt man ein wenig über die Geographie der Unterwelt. Da gibt es zwei Bereiche, die Gefilde der Rechtschaffenen, der Römer von tadelloser Moral, deren Seelen in ewigem Glück leben, und, na ja, auf der anderen Seite das Ghetto der Schurken. Da es in der Welt der Lebenden derzeit eher schurkisch als moralisch integer zugeht, beklagen die Rechtschaffenen Decier, Curier, Camillus, Sulla (ausgerechnet der!), Scipio, Cato das Schicksal der vom Bürgerkrieg zerrütteten Welt, als einziger unter den Seligen freut sich ein gewisser Brutus, vermutlich deshalb, weil sein ferner Nachfahre in dessen moralisch-historische Fußstapfen treten und seinerseits (et tu, Brute!) einen Tyrannen beseitigen wird, wenn auch auf lange Sicht nicht erfolgreich. Auf der anderen Seite, im Ghetto der Schurken, frohlocken Catilina, die Marier, Cetheger, Druser, die Gracchen (ausgerechnet die!) und andere über die Verhältnisse draußen (aeternis chalybis nodis et carcere Ditis / constrictae plausere manus "Die von der ewigwährenden Stahlfessel und vom Kerker des Dis gebundenen Hände applaudieren"). Düster ist, was der Tote zu verkünden hat, und der Trost für den Fragesteller ein bitterer. Der Herr der Unterwelt bereite schon die Folterinstrumente für "den Sieger" vor, während für Pompeius und seine Familie bereits ein Luxuszimmer in den Gefilden der Seligen reserviert sei. Bedeutet: Caesar wird bei Pharsalos siegen. Aber mach dir nichts draus, Sextus. Ist doch viel schöner, später in der Unterwelt die Gefilde der Seligen bewohnen und Umgang mit Sulla fplegen zu dürfen. Nicht wahr.
Der weitere Rat ist bescheiden. Über Sextus' eigenes Schicksal darf der Tote nichts sagen; Sextus selbst werde es zu gegebener Zeit von den Parzen erfahren. Dort, wo sie, Sextus und sein Vater Gnaeus sich aufhalten, Thessalien, sei bereits der sicherste Ort auf Erden, den sie jemals haben werden. So endet Buch VI:
"Nachdem er so das Schicksal verkündet hatte, steht er mit schweigender Miene da und fordert den Tod zurück. Es braucht Zaubersprüche und wirksame Kräuter, damit der Leichnam umfällt, und das Schicksal verbietet es der Seele, einmal gerufen, ein zweites Mal zurückzukehren. Dann schichtet [die Hexe] aus viel Holz einen Scheiterhaufen auf, und der Tote kommt ins Feuer. Nachdem Erichtho den Haufen angezündet hat, läßt sie den jungen Mann, den sie endlich sterben läßt, zurück und begleitet Sextus zum Lager seines Vaters; und während sie beim Aufziehen der Morgenfarbe mit sicheren Schritten zwischen die Zelte treten, zeigt die Nacht, der befohlen war, den Tag zu verhalten, noch ihre dichten Schatten."
Das VI. Buch enthält zwei Großteile. Teil eins behandelt die Ereignisse in Dyrrhachium samt der Aristie des Scaeva. In Teil zwei geht es um die Hexe Erichtho und ihre bzw. des von ihr zurückgeholten toten Soldaten Weissagung.
Noch was zur Sternparallaxe
Das Weltraumteleskop Gaia und ein paar sehr exakte Vermessungen. In der selben Episode geht es um die Entwicklung unserer Milchstraße, wie man sie beobachten und photographieren kann, und um Gravitationslinsen und schwarze Löcher.
Mehr Hexen
Nun aber ein wenig Fleisch auf die Knochen der Theorie. Thessalische Hexen können:
- Götter zwingen, die aufmerksamkeit von Göttern herbeiwünschen
- Liebe verursachen
- lendenlahmen Greisen zur Potenz verhelfen
- Gesunde in den Wahnsinntreiben
- Tageszeiten beeinflussen (Tag oder Nacht verlängern)
- Wetter beeinflussen
- Wellen ohne Wind, Wind ohne Wellen verursachen
- Schiffe gegen den Wind fahren lassen
- Wasserfälle im Sturz aufhalten
- Flüssen aufwärts fließen lassen oder ihren Lauf beliebig ändern
- Berge glätten
- Schnee mitten im Frost schmelzen lassen
- Gezeiten aufhalten
- Erdbeben verursachen
- Tierverhalten beeinflussen, Tiere zähmen
- Gestirne vom Himmel holen
- Mond verdunkeln
Das alles kann Erichtho, die intimen Umgang mit Unterweltsgeistern pflegt und auf Scheiterhaufen und Grabhügeln wohnt, natürlich auch. Dazu setzt sie folgende Praktiken ins Werk:
- sammelt Blitze
- verbrennt keimendes Saatgut
- verbrennt statt gewöhnlicher Opfer Leichenfackeln und vom Scheiterhaufen entwendeten Weihrauch auf dem Altar
- vergräbt Tiere lebendig in Grabstätten
- entwendet die Asche junger Verstorbener, schwelende Knochen, Leichenfackeln, im Rauch wirbelnde Stücke des Totenbetts, in Auflösung befindliche Totenhemden, nach Körper riechende Flugasche vom Scheiterhaufen
- klaubt Mumien die Augäpfel heraus und zieht ihnen die Nägel ab
- zerbeißt den Strick Gehenkter, pflückt die Leichen vom Galgen und kratzt sie vom Kreuz
- zerteilt das vom Regen gepeitschte Fleisch, entnimmt das von Sonne gedörrte Knochenmark
- sammelt Kreuzigungsnägel
- fängt Verwesungsflüssigkeit und Fäulnisgifte auf
- schreckt auch vor Mord nicht zurück, wenn ein Zauberrezept frisches Blut verlangt
- reißt die Leibesfrucht aus dem Bauch von Schwangeren, um sie zu opfern
- reißt den ersten Bartflaum verstorbener Jugendlicher aus und schneidet ihr Haar ab (mit der linken Hand, versteht sich).
Nunja, im Grunde erwartbar. Alles kreist um Tod und Verwesung. (Bis auf die Blitze) Aber Lucan wäre nicht Lucan, wenn er den Grusel nicht auf die Spitze treiben würde. Hier ein schönes Exempel (soweit ich bis jetzt gelesen habe, 664--669):
"Oft legt sich die abscheuliche Thessalierin sogar auf die teuren Glieder eines verstorbenen Verwandten, drückt Küsse auf den Leichnam, mißhandelt dabei den Kopf und öffnet dem Toten mit ihren hineingeschlagenen Zähnen das Gesicht, und nachdem sie die in der trockenen Kehle haftende Zunge abgebissen hat, träufelt sie Zaubergemurmel zwischen die eiskalten Lippen und gibt den Schatten der Unterwelt geheimes Verbrechen in Auftrag."
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Eine seltsame Stelle ist VI 455f, hier im Kontext (454--458):
"Erfolg haben nicht nur die giftigen Tränke, oder wenn sie den von Sekret geschwollenen [Auswuchs] von der Stirn [des Fohlens?] abschneiden, das Unterpfand für die Liebe der Stute (?): ohne den Giftbecher getrunken zu haben, allein durch Zaubersprüche, geht der Verstand zugrunde."
Was ist das für ein Auswuchs auf der Stirn des Fohlens? Ich mußte spontan an die Temporaldrüse der Elephantenbullen denken, doch ist mir Vergleichbares von den Pferden nicht bekannt. Dann fiel mir auf, daß es hier gar nicht um Pferde zu gehen braucht; nur weil meine Reclamübersetzung von Fohlen spricht, muß das nichts heißen. Es könnte sich beispielsweise auch um ein Reh handeln. (Herr Bubo, wissen Sie vielleicht was darüber?) Zumal Teile des Rehs im Verlauf noch einmal, dann aber mit klarem Bezug, als Zutat für Zaubertränke genannt werden.
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Mal wieder ein Beispiel schwieriger Syntax (651--653):
dubium est leitet eine Entscheidungsfrage ein, deren Glieder mit an "oder" verknüpft sind. Die Unübersichtlichkeit des syntaktischen Geschehens kommt hier einmal dadurch zustande, daß die abgefragten Alternativen in Kausalsätzen stecken ("ob ... weil .... oder weil ...") und zum andern die kausalen Alternativen durch den Hauptsatz, von dem sie abhängen, gesperrt sind. Drittens aber erfordert die Logik eigentlich, daß man den Hauptsatz doppelt, also "... ob x weil y, oder ob x, weil z" --> "... ob x weil y oder weil z", wie wir das im Deutschen ja auch machen würden. Und viertens müssen wir Stygias ... umbras zweifach deuten, einmal als Objekt zu aspiciat, dann als Objekt zu traxerit. Doch der Reihe nach. Lösen wir zuerst mal die Sperrung auf, dann kriegen wir:
dubium est, aspiciat Stygias umbras, quod traxerit illuc, an, quod descenderit.
Dann ergänzen wir ein Objekt für traxerit:
dubium est, aspiciat Stygias umbras, quod eas traxerit illuc, an, quod descenderit.
Und dann können wir noch den Satz logisch auffalten:
dubium est, aspiciat Stygias umbras, quod eas traxerit illuc, an aspiciat Stygias umbras, quod descenderit.
"Fraglich ist, ob sie die Unterweltsschatten erblickte, weil sie sie emporgezogen hatte, oder weil sie hinabgestiegen war."
Weiter im Lucan (VI 432--506)
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Blitz und Donner hervorrufen, den Lauf der Sterne manipulieren -- geschenkt! Was einen vor den Hexen erst so richtig gruseln läßt, ist ihre Macht über Menschen -- und über Gottheiten. Nicht nur thessalische, auch Hexen anderer Provenienz können die Aufmerksamkeit von Göttern fesseln ("auf fremde Altäre lenken", heißt es bei Lucan); sie können Liebe entfachen, "wo es das Schicksal nicht vorgesehen hat" und, ein Skandal, lendenlahmen Greisen Liebesverlangen einflößen. Überhaupt: im Bild der Hexe gibt es eine starke sexuelle Komponente. Dabei geht es um mehr als um bloße Liebeszauberei. Im Goldenen Esel des Apuleius etwa setzen die Wirtinnen Meroe und Pamphile ihre Künste ein, um Gäste gefügig zu machen und sexuell an sich zu binden (und sie dann zu berauben). In den Amores (I,8) läßt Ovid eine als Hexe verschriene Greisin sich als Zuhälterin betätigen (mit dessen eigener Geliebten im Angebot, wie das Erzähler-Ich erkennen muß). In Horaz' 5. Epode wird es noch schlimmer: drei Hexen, die bei Horaz auch andernorts auftretende Canidia sowie ihre Kolleginnen Sagana und Veia, graben einen vorpubertären Knaben (dessen Körper "selbst die brutalen Thraker erweichen könnte", auch dies darf man getrost sexuell verstehen) bis zum Kinn in Erde ein, damit er langsam an Hunger zugrundegehe. Sein Mark und seine Leber sollen sodann einem Liebestrank als Zutaten dienen. Im Laufe des Gedichts erfährt man: der Zauber soll einen alten und (wie, man annehmen darf reichen) Mann in die Zauberin selbst verliebt machen. Man kann diese Kombination von Geilheit und Geld unter Gier und Habgier abheften; man kann sie aber auch als Wille zur Potenz betrachten. Sicher ist die Figur der Hexe negativ gezeichnet; irgendwie schwingt aber auch so etwas wie Bewunderung mit. Wer möchte nicht solche Macht haben? Weil's so schön ist, hier ein Zitat (Ep. 5, 77--82):"Stärkeres will ich brauen, Stärkeres dir einflößen, auch wenn du den Becher satt hast. Und eher wird der Himmel unterm Meer zu liegen kommen und die Erde sich darüber erstrecken, als daß du nicht in Liebe zu mir entbrennst gleich Pech mit schwarzer Flamme."
Weiter im Lucan
Hexen
Daß es Regionen gibt, die eine besondere Affinität zum Übernatürlichen haben, ist ja bekannt. So gilt beispielsweise in Deutschland der Harz und insbesondere die Gegend um den Brocken als Wohnort und Wirkungsbereich von Hexen. In ähnlicher Weise ist für die römische Literatur das Land der Hexen Thessalien. Bei dieser Festlegung der Region auf die schwarze Kunst hat vielleicht die Figur der Medea eine Rolle gespielt, die ja, Jason, dem Vliesräuber, aus ihrer Heimat Kolchis am schwarzen Meer folgend, nach Thessalien übergesiedelt war, nachdem sie sich, hatte sie doch Jason durch Verrat an ihren Landsleuten geholfen, sich in der Heimat nicht mehr blicken lassen durfte. Jedenfalls ist die Verbindung von Thessalien mit Hexen so eng, daß das Wort thessala "Thessalierin" als Wort für "Hexe" stehen kann. Wie heutzutage nicht anders, ist der Bereich der Magie und des Übersinnlichen in der römischen Literatur von festen Topoi bestimmt. So wie wir heute sofort an ein gewisses blutsaugendes Wesen denken, wenn wir die Begriffe "Spiegel", "Knoblauch", "Sarg" lesen, gibt es auch in der lateinischen Dichtung ein festes Inventar an Eigenschaften, die einer Hexe zukommen. Und so wie keine Vampirgeschichte ohne Fledermäuse, so gibt es keine Hexendichtung ohne die Auflistung der entsprechenden Folklore: Hexen können den Lauf der Gestirne beeinflussen und Flüsse aufwärts fließen lassen; sie können Windstille oder Sturm anordnen und es aus heiterem Himmel blitzen und Donnern lassen.Der thessalische Schauplatz ruft also geradezu nach einer kleinen Gruseleinlage, und Lucan wäre nicht, der er ist, würde er eine Gelegenheit verstreichen lassen, seine Darstellungsvirtuosität in grausigen Dingen zur vollen Entfaltung zu bringen. Sextus, ein etwas mißratener Sprößling des Pompeius, beabsichtigt, bei thessalischen Magierinnen Auskünfte die unmittelbare Zukunft, insonderheit den Ausgang der erwarteten großen Schlacht gegen Caesar, einzuholen. Hexen statt Pythia, das ist ein bißchen wie Internet statt Tageszeitung oder Pendeln statt Magnetresonanztomographie. Bin gespannt, was das wird. Zunächst, sozusagen zur nervlichen Einstimmung, gibt es einen kleinen Exkurs in Sachen Hexologie. Der Beginnt mit einer Aufzählung der von Sextus verschmähten, gewissermaßen "offiziellen" Auskunfteien -- den griechischen Orakeln, von denen die berühmtesten, Dodona und Delphi, in Thessalien liegen, den römischen Divinationstechniken (Vogel-, Wetter-, Eingeweideschau), sowie aus römischer Sicht entlegeneren Methoden, die babylonische Astrologie etwa. Diese befragt Sextus also alle nicht. Die Aufzählung ist also ein Kontrast zu dem, was jetzt kommt, des Normalen und Erwartbaren zum Gruseligen, Zwielichtigen und auch Verbotenen. Wir haben die höheren Götter ([arcana] supernis detestanda deis, "den höheren Göttern verabscheungswürdige [Geheimnisse]", VI 430f); und wir haben die "die gräßlichen Altäre voller Opfer wilder Tiere", tristis sacris feralibus aras (432); den" Schutz des Dis und der Schatten", umbrarum Ditisque fidem. aut siquid tacitum sed fas erat hieß es bei der Aufzählung der anständigen Orakelmethoden, "oder was halt sonst zwar nicht geheim, aber erlaubt (fas) ist". Hexenwerk ist nicht fas, sondern nefas, womit der Römer alles bezeichnet, was regelwidrig und schädlich ist. Nefas, das ist begrifflich so eine Art haram der römischen Welt.
Die Spannung erhöhen, indem man die Katastrophe ankündigt, dann aber die Bremse zieht und erstmal gelehrte Auslassungen über Thessalien ausbreitet -- das ist die eine Funktion des Thessalienexkurses (der im übrigen noch nicht beendet ist). Eine andere könnte man darin sehen, daß die zu erzählende Geschichte, die Schlacht bei Pharsalos nämlich und der Untergang der Republik, Platz nehmen dürfen in der illustren Reihe mythologischer Geschehnisse von Herkules bis zu den Lapithen. Damit erhält die jüngste Historie den Rang eines mythisch-welthistorischen Ereignisses -- mit einem Unterschied: Bislang haben die Götter darüber gewacht, daß der Frevler bestraft, der Überhebliche in seine Schranken gewiesen, der Gottlose zur schmerzlichen Einsicht in die Gewalt der Götter gebracht wird. Keiner ist davongekommen, von Agaue über Thamyris bis zu den Kindern des Aloeus. Alle, bis auf Caesar (bzw. seine Nachfahren). Die bislang bestehende Ordnung, die im Mythos obwaltende ausgleichende Kraft, die für Gerechtigkeit sorgt und jeden Ausgriff über das Billige hinaus hart bestraft, diese Ordnung ist nicht mehr. Caesar wird wie Aloeus nach dem Olymp greifen -- und damit durchkommen, jedenfalls für kurze Zeit. Aber auch sein eigener Tod kann nichts daran ändern, daß eine neue Zeit angebrochen ist, eine Zeit, in der Tyrannen tun, was machbar ist, weil es machbar ist.
Weiter im Lucan
Mehr Thessalien (VI 333--412)
Fast neunzig Verse widmet Lucan diesem landeskundlichen Exkurs. Zuerst wird die geographische Lage der Region anhand der sie begrenzenden Gebirgszüge umrissen. Nachdem der Dichter die Entstehung Thessaliens aus einem Sumpf oder See geschildert hat, der einst dem Mythos nach die ganze Region bedeckt haben soll, zählt er die wichtigsten Flüsse auf, die seit der Hebung des Landes aus dem Wasser Thessalien entwässern. Die nächsten beiden Abschnitte sind teils sagenhaften, teils historischen Völkerschaften und Sippen gewidmet. Thessalien ist Heimat der Zentauren, von Iason (der mit dem Vlies), Ion, dem Stammvater der Ionier, der Pythischen Spiele, der Leleger und der Lapithen:
- 333--359 Grenzen, Berge, einzelnde Landschaften und Städte
- 360--380 Flüsse
- 381--394 mythische Völkerschaften; Leleger, Zentauren
- 395--412 mehr Mythologie, Lapithen, Iason, Ion, Python, die Pythischen Spiele; Aloeus und seine Kinder
Und jetzt also ist Thessalien der Schauplatz (bello quam fata parabant, "den das Schicksal für den Krieg bestimmt hatte") fürs letzte Gefecht. Was für ein Ort.
Sicher dient dieser Exkurs auch dazu, die Spannung zu steigern. Kurz vor der Entscheidungsschlacht halten wir noch einmal inne und studieren die Geographie, Geschichte und Mythologie des Schauplatzes. Ich tue es Lucan nach und zitiere hier noch einmal, weil es so schön war, einen mit griechischen Eigennamen gespickten Abschnitt.
"Zwischen diesen Bergen, in deren Mitte sich das Tal drückt, lagen die Felder einst unter einem ständigen Sumpf verborgen; solange die Ebenen die Flüsse zurückhielten und das Tempe-Tal noch keinen Zugang zum Meer bot, gab es für die Ströme, die den Sumpf füllten, nur einen Lauf: zu wachsen. Nachdem aber das Ossa-Gebirge sich durch die Hand des Herkules vom Olymp getrennt und Nereus die Wucht der herabstürzenden Wasser gespürt hatte, stieg das thessalische Pharsalos, das Herrschaftsgebiet des meerentstammten Achill, das besser unter Wasser geblieben wäre, aus dem Sumpf auf, und außerdem auch Phylake, das als erstes den Strand von Rhoeteum erreichte, Pteleos und das durch den Zorn der Pieriden beweinenswerte Dorion; der Berg Trachin und Meliboea, stark durch die Pfeile des Herkules, den Lohn für eine Leichenfackel, und das einst mächtige Larisa; und die Gegenden, wo man jetzt über dem einst edlen Argos pflügt; wo der Sage nach, von Echion gegründet, das alte Theben lag; wo einst die fliehende Agaue Pentheus' Haupt und Nacken dem Scheiterhaufen übergab und beklagte, daß das alles war, was sie dem Sohn entrissen hatte."
Achill heißt meerentstammt, weil seine Mutter die Meeresnymphe Thetis ist. Nereus, Sohn des Pontos und der Gaia, ist ein alter Meeresgott. Unter Wasser geblieben wäre Pharsalos besser deshalb, weil an diesem Ort Caesar über Pompeius den Sieg davontrug und damit der Römischen Republik das Ende bereitete. Protesilaos aus Phylake war der erste aus dem griechischen Heer, der vor Troja (an einem Felsen namens Rhoeteum) an Land sprang. Dorion ist der Ort eines Sangeswettstreits zwischen einem Sänger namens Thamyris und den Pieriden, einer Gruppe von sieben Musen. Man weiß aus Erfahrung, wie solche Wettkämpfe auszugehen pflegen. Meliboea ist der Geburtsort des Helden Philoktetes, der von Herkules seine vergifteten Pfeile erhielt zum Lohn dafür, daß er Herkules' Scheiterhaufen in Brand setzte. Agaue wiederum zerriß ihren eigenen Sohn in dionysischer Verzückung, (Sie wurde bestraft, weil sie die Mutter des Dionysos, Semele, geschmäht und seine göttliche Abkunft angezweifelt hatte).
Die Verse VI 299--313 zeigen eine Besonderheit der lateinischen Modalität, daß nämlich eine einzige modale Form dem Ausdruck der Modalität genügt. So muß ein Modalverb wie posse (aber auch etwa oportet, licet oder ein prädikatives Gerundivum) zum Ausdruck der Kontrafaktizität nicht zusätzlich noch im Konjunktiv stehen ((zumindest gilt das für die Vergangenheitsformen). Im vorliegenden Abschnitt rahmen zwei Instanzen von posse eine Folge von Konjunktivformen: fores, vicisset, flesset, gestasset, pressisset, placasset, caruisset: "wärst gewesen, hätte gesiegt, hätte beweint, hätte getragen, hätte gedrückt, hätte besänftigt, hätte entbehrt" Eingeleitet wird diese Aufzählung von Geschehnissen, die aufgrund einer unerfüllten Bedingung alle nicht passiert sind, durch die Form potuit, das Perfekt von posse: totus mitti ciuilibus armis / usque uel in pacem potuit cruor: ipse furentis / dux tenuit gladios. "Das ganze Blut hätte durch die Klingen des Bürgerkrieges sogar für den Frieden vergossen werden können; doch der Anführer selbst hielt die rasenden Schwerter zurück." ("Du, Rom, wärst glücklich und frei von Königsherrschaft gewesen etc.", geht es dann weiter, im Konjunktiv) Gemeint ist, daß Pompeius das Kriegsglück nicht genutzt und die Gelegenheit zum Sieg hat verstreichen lassen. Ich habe hier übersetzt mit "hätte können", die Form aber ist Indikativ, "konnte". Für das Lateinische ist das bereits reine Möglichkeit, wenn nicht sogar Irrealität: Aus dem Können folgt kein Sein. Insofern reicht dem Dichter hier die Feststellung dieses Könnens, als Feststellung einer unverwirklichten Möglichkeit: Pompeius konnte damals ja tatsächlich siegen, hat es aber nicht getan. Man neigt im Deutschen hier dazu, die unverwirklichte Möglichkeit noch durch den Konjunktiv zu unterstreichen, obwohl das logisch betrachtet überflüssig ist. Denn das Imstandesein an sich ist ja eine Tatsache. Den Indikativ bei dynamischer Modalität im Deutschen nehmen wir eigentlich nur, wenn es um intrinsische, von Verwirklichungsinstanzen unabhängige Aussagen geht, also etwa Mit zwanzig konnte ich die hundert Meter in zehn Sekunden laufen. Oder, Bei klarem Wetter konnte man vom Feldberg den Alpenrand sehen. Gleich, ob man den Alpenrand einmal sah oder niemals, ob man überhaupt auf dem Feldberg war, man konnte den Alpenrand sehen, das Gebirge war sichtbar, es zu sehen war, unabhängig von der Verwirklichung, möglich: eine Möglichkeit de dicto, sozusagen. Anders, wenn jemand auf den Feldberg steigt (Möglichkeit de re oder facto), sich aber nach Norden wendet und keinen Blick nach Süden tut: Dann würden wir sagen, Du hättest die Alpen sehen können (oder, Du hättest sie gesehen), nicht aber, Du konntest die Alpen sehen.
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