Beim Wort Beaujolais an Wollpullover, Decken und Winterabende denken; an erste Küsse und an einen feuchten Schoß denken, klebriger Samen auf einem warmen Bauch, tief eingewickelt in der Mitte der trockenen Wärme von Wolle, Stallgeruch des Geschlechtlichen. Beaujolais: junger Wein, der zu den jungen Erfahrungen paßte. Keine Reife, aber schon Kennertum bei mir wie bei ihr, und wie wir uns in den elementaren Fragen des Geschmacks von Delikatessen einig waren. Spaziergänge mit Kastanienlaub in den Alleen einer für beide fremden Stadt, in der man heimisch werden wollte, so wie eins verlangend im anderen zu Hause zu sein begehrte. Dazu der trockene, leicht irden schmeckende Wein, dessen Geschmack Jahrzehnte später, in einer völlig anderen Welt, nicht mehr auffindbar ist: Was bleibt, ist nur der Name der Rebsorte, der Name der Frau, die Erinnerung nicht nur an ihren, sondern an so viele Schöße, so viele Aromen, die alle dem ersten nicht mehr nahekamen. Eingekapselt wie Fruchtschalen innerhalb von Fruchtschalen, wie das warme, herbe, sanft Bittere von Kastanien. Ein stacheliger Herbst mit dem weichen Samt des Nebels und der Wärme der Fenster, in denen sich Kerzenschein spiegelt, und, vom Bett aus, dessen Enge gerade recht ist für zwei, nicht zu sehen, zwei nackte Leiber, die ihre Nacktheit voreinander bereits vergessen haben. Bibliothelen und Erkenntnisse, Buch- wie Körperweisheiten, und alle Wege voller Zukunft, unausschöpflich und geheimnisvoll. Lockend vor Fremdheit.





Gegenüber in der Küche im ersten Stock ist schon Licht. Eine Frau ist dort beschäftigt mit Aufräumen oder Frühstückmachen oder was für Aufgaben am Morgen sonst so warten, erledigt zu werden. Sie wendet sich hierhin und dorthin, stellt etwas weg, hat vielleicht ein Geschirrtuch in der Hand. Am offenen Fenster warte ich darauf, daß sich mein Zimmer mit Frischluft füllt, keineswegs habe ich die Absicht, diese Frau zu beobachten, irgendwen zu beobachten, da sehe ich in meiner Absichtslosigkeit: die Frau trägt nichts weiter als einen Büstenhalter, der Verschluß hell und wie ein Stück Rüstung auf ihrem breiten Rücken schimmernd. Nicht einmal eine Sekunde dauert es, dann schließe ich, eher erschrocken als entzückt, das Fenster.

Es ist eine Sekunde, die mehr Vorstellung enthält als tatsächliche Sichtbarkeit. Zum Beispiel wird mir die Bewegung, mit der die Frau sich von einer Seite der Küche zur anderen wendet, vielleicht von der Arbeitsfläche zur Spüle, wie ein Tanzschritt vorkommen, als hörte sie Musik (so leise, so beschränkt auf ihren privaten Umkreis, daß ich unten gegenüber nichts davon höre) und wiegte sich dazu, kaum ein Tanz zu nennen, im Takt, fröhlich darüber, daß der Tag losgeht, daß sie am Leben ist, daß ein Vergnügen irgendwann heute auf sie wartet, von dem ich keine Ahnung habe. Ebenso mehr gedacht als gesehen sind die Metallhaken der Schließe, die den Büstenhalter am Rücken zusammenspannt. Habe ich wirklich gesehen, wie sich die obere Lasche ein bißchen auswärts krümmte? Wie das dehnbare Synthetikmaterial im Licht der Küchenlampe leise schimmerte? Wie der Stoff sich weich in die Haut der Flanken jener Frau drückte? Die Frau ist jung, aber nicht sehr jung, jung auf eine reife, robuste, haltbare Art, sie trägt langes, blondes, vielleicht rötliches Haar, dessen Wellen, zusammengefaßt von Spange oder Band, über den Nacken fallen. Das habe ich nicht gesehen, das ahne ich, erfinde ich mir höchstens später. Die Erfindung tilgt auch bereitwillig den Widerspruch, daß die Haare eigentlich den Büstenhalter verdecken müßten. Was ich auch nicht gesehen habe, was aber alles in dieser Sekunde keimt, sind die anderen Bilder, die sich jenem jüngsten verbünden, der nackte Schemen hinter der Milchglasscheibe, der dampfenden Umriß im Badezimmerfenster, das sich damals dem Zugreisenden darbot.

Früher hätte ich vielleicht länger ausgeharrt, riskiert, selbst deutlich sichtbar am offenen Fenster, aber mit nichts beschäftigt außer zu starren, bei meinem heimlichen Entzücken, das mir nicht als freundlich ausgelegt worden wäre, entdeckt zu werden. Aber was wissen diese Frauen schon.

Das Sehendürfen ist eigentlich keine Frage der Erkenntnis, sondern eine der Zuwendung, und, in der Zuwendung, der offenbarten Bereitwilligkeit, der bereitwilligen Offenbarung. Komm, du darfst sehen. Und dann auch: fühlen, schmecken, hören. Diese Zuwendung fehlt natürlich in der heimlichen Erkenntnis, die man sich ungebeten holt. An ihre Stelle tritt der Reiz der Selbstvergessenheit und Ahnungslosigkeit der Beobachteten. Allein das heimliche Schauen, muß man wohl meinen, empfängt den Eindruck eines vom Beobachter unbeeinflußten Daseins. Die Zuwendung reagiert auf den Beobachter. Das eine schließt das andere aus: Der Beobachter kann nicht zugleich gemeint sein mit dem, was er sieht. Der Gemeinte kann nicht sehen, was das Geschaute ohne ihn ist. Ohne ihn: das geschaute Objekt, wie es ist, wenn keiner zuschaut und alle Vorsichtsmaßnahmen, Masken, Täuschungen (absichtliche wie unwillkürliche), Personae, Schutzwälle fehlen, abgenommen, abgelegt worden sind ebenso wie die Kleider, jene alltäglichsten aller Masken.

Genau das ist der Reiz von Bildwerken, die eine Morgentoilette zeigen. Nirgends, darf man annehmen, ist man so selbstvergessen und alleine, so ausschließlich und zugleich selbstverständlich, alltäglich und banal bei sich selbst wie beim täglichen Waschen, Zähneputzen, Frisieren, Tätigkeiten, die so beiläufig sind wie sie lästig fallen können. Wenn Maler nicht auch den Stuhlgang oder das Wasserlassen abgebildet haben, so liegt das vielleicht daran, daß diese Vorrichtungen die Ausübende in unvorteilhafter Weise zeigen würden. Eine Ästhetik der Kloschüssel ist noch nicht erfunden, so weit ich weiß. Eine Ästhetik der Waschschüssel sehr wohl. Eine noch intensivere und jedenfalls ihrerseits ästhetische Beschäftigung mit sich selbst ist allenfalls die Masturbation, und auch dieses Tun ist ja beliebter Gegenstand der bildenden Kunst, von der Pornographie zu schweigen. Der Betrachter wird darin zum Voyeur, bei einem Tun, das sich unbeobachtet glaubt, oder aber, je nach Darstellung, vom Beobachter weiß und diesen, verschämt oder unverschämt, zum Zuschauen einlädt, indem sie ihn, der, dadurch, daß er das Bild betrachtet, einwilligt, zum Voyeur, zum Komplizen seiner eigenen Übertretung, ja, zum Teilhaber an der intimen Verrichtung macht. Indem der Betrachter verweilt, nimmt er die Zuweisung an wie auch die Verantwortung, die damit verknüpft ist. Anders als das Waschen jedoch ist die Masturbation gerade nicht selbstvergessen. Sie ist weder banal noch beiläufig noch lästig, höchstens alltäglich, und schon gar nicht läßt sich vorstellen, daß eine Frau gedankenverloren masturbiert. Es sei denn verloren in ganz bestimmte, dem augenblicklichen Tun förderliche Gedanken – aber dann ist sie nicht gedankenverloren sondern konzentriert. Das Waschen und Zähneputzen ist eine automatische Verrichtung, unbewußt, die sich dem Tagträumen anempfiehlt.

Jemanden beim Tagträumen zu beobachten, darin liegt großer Reiz und eine ebenso starke Scheu hält davon ab. Tagträumen ist ein Zustand höchster Aufmerksamkeit, in dem die Tagträumende ganz von sich abgelenkt ist. Ein Gedanke führt zum nächsten, und alle führen sie fort vom ich-denkenden Ich und lassen dieses vom Gedanken an sich selbst unbastionierte Ich in größter Offenheit und Schutzlosigkeit zurück. Eine besondere Form der Gedankenverlorenheit ist die Lektüre. Glückt das Lesen, ist dazu keinerlei Konzentration vonnöten. Konzentration hat ja immer einen Aspekt von Anstrengung, willentlicher Anspannung. Man muß seinen Gegenstand festhalten und dafür Kraft aufwenden; der Gegenstand aber versucht immer wieder zu entkommen, was ihm meist auch gelingt. Beim geglückten Lesen aber hält nicht die Leserin den Gegenstand sondern der Gegenstand die Leserin. Der Text zieht einen Gedanken, eine Vorstellung nach der anderen aus ihrem imaginativen Potential, das sie und nur sie bewohnt. Sie ist aber, wo sie wohnt, nicht bei sich selbst, sie ist bei den Helden der Geschichte, an der sie lesend teilnimmt. Ihr dabei zuzusehen, heimlich, hat etwas ähnlich Voyeuristisches, wie ihr dabei zuzusehen, wie sie sich wäscht oder anzieht (oder streichelt). Als könnte der Beobachter für kurze Zeit sie dort besuchen, wo sie gar nicht ist, wie wenn man ein Zimmer betritt, das sie für kurze Zeit verlassen hat, in dem aber etwas von ihr zurückgeblieben ist, ein Duft etwa, etwas, worüber sie keine Kontrolle mehr hat. In ähnlicher Weise hat man schon an der abgelegten Unterwäsche der Freundin gerochen, auch dies ein Akt des Voyeurismus. Sie weiß nichts davon und kann sich gegen die darin gewonnene Erkenntnis nicht zur Wehr setzen, sie nicht ungeschehen machen.





Wärme, und das Gewicht der Bäume.

Mundgeblasene Wolken. Die gestrafften Saiten der Segler, und wie sich der Himmel an Winden aufrichtet.

Die Greisenmünder von Pfützen, erstorbenes Blau. Luft wie die Asche parfümierter Fächer in der Brust.

Die Wege folgen mir wie Hunde. Ich überlege, mich zu verlaufen und die Wege mitzunehmen.

Ein Akt der Hingabe, wie die Stiefel eine Frau über den Asphalt tragen. Die Frau wiederum führt das Pferd an der Leine, beide führen sie mich. Melancholische Augen öffnen sich, Aufgang von Träumen im Morgengrauen, die Schatten von Monden lösen sich auf im Schimmer einer Distel. Siebgut von Wimpern am Grund der Blicke. Die Fersen verschwinden unter Farn, die Hufe verstummen.

Lange vor der Stadt geben die Wege auf und bleiben keuchend im Schatten stehen. Die Hecken halten sich die Seiten. Keine Rast von Gedanken. Für Spinnweben ist das Licht zu trocken.





Und die Schafe mit ihrem Tiergeruch. Eine ganze Herde liegt da in der Sonne und im Schatten von Buche und Ahorn, kaut und liegt und schaut und riecht. Nach Wolle, nach Schafsdung, nach Milchlamm, nach dem satten, saftigen Grün. Ein Café ist gleich um die nächste Biegung. Von mir aus müssen wir nicht. Von mir aus auch nicht. Zwei Augenpaare voll Schalk, schauen sich an, wissen wenig, brauchen nichts zu wissen. Nur Nasenflügel blähen sich, beben, wie Insekten, wie Lungenhautflügler, als der Schafsgeruch in die Stirne strebt. Von einem umgestürzten Baum hängt ein duftender Bocksbart. Gott Pan persönlich kämmt hufige Sanftheit aus der Luft. Wenn dann die Wege lang werden, drückt der Mittag, macht der Tag ein Hohlkreuz, das bückt sich unter Schatten hindurch, und schmal fallen die Bäche durchs Licht, wo die Buchen die Vernunft ausbluten lassen und wilde Möhren den Kopf im Grund kühlen. Da haben es zwei eilig, da springen zwei über den Weg. Hände umtänzeln Hüfte und Brust, wie Hunde: Spielst du? Spiel mit mir! Küsse? Natürlich, die gibt es auch, darauf läuft es hinaus auf dem hinreichend langen Weg. Nicht als ob nichts wäre, sondern so, daß alles ist. Küsse wie Wellenschlag am ferneren Ufer eines Sees. Küsse wie das Blinde hinter geschlossenen Lidern. Ein See, an dessen schlammigem Grund vergessene Uhren lagern. Aus Booten gefallen, von Gelenken gerutscht, beim Schwimmen vergessen, in versunkenen Palästen zurückgelassen. Uhren auf der Suche nach ihrer Zeit, blind, die Zeiger tastend wie Zungen. Solche Küsse sind. Im Mittag, auf seiner abgewandten Seite. Zerfließende Töchter von Schatten, die Felle zu Tal ziehen. Muß nur die Wiese mit den Beinen strampeln, schon fliegt ein Schuh ins Gebüsch. Was hinterherfliegt, hat keiner gesehen. Später ist später, eine ermattete Zeit. Langsame Kähne hobeln Schicht um Schicht Licht vom geduldigen Strom. Geschundene Brauen, es brennt von Zucker und Haut, durch die sich die Stunden beißen hinaus ins Freie und Helle des Schlafs.