Mittwoch, 8. Februar 2023

Lucan, Pharsalia IX, 14ff

... risitque sui ludibria trunci.
hinc super Emathiae campos et signa cruenti
Caesaris ac sparsas uolitauit in aequore classes

"... und lacht über das Lächerliche seines eigenen Rumpfes. Von hier fliegt er über das Thessalische Schlachtfeld und die Standarten des blutbefleckten Caesar und über die Flottenteile, verstreut über die See."

Aus Pompeius' Seelenreise lassen sich ein paar subtile Komplexitäten herauszwirbeln. Da schwebt also die Seele des ermordeten Feldherrn über den Orten der Handlung von Buch VIII, die wir Leser eben verfolgt haben, dem Schlachtfeld bei Pharsalos, der Flotte, zuletzt über dem seines Kopfes beraubten Leichnam. Mit Flug und Schau nimmt also die Seele des Feldherrn den Standort und die Perspektive des Erzählers ein -- und unseren eigenen, die wir ja auch gleichsam und geführt von unserem Erzähler, über der Handlung schweben. Mit ihr, der Seele, fassen wir die jüngsten Ereignisse noch einmal zusammen, bevor sie von Cato Besitz ergreift und wir der Handlung weiter folgen, die nun von letzterem vorangetrieben wird -- und in Cato durch Pompeius, der in dem einstigen politischen Gegner lebendig bleibt und fortwirkt. So gesellt sich Pompeius also für einen Moment zu uns und nimmt neben uns auf dem Zuschauersessel Platz, außerhalb der Erzählung, der er angehört, und doch immer noch in ihr, denn wir lesen ja immer noch von ihm. Oder umgekehrt sind es wir, die wir uns auf einmal in eine zwischen Erzählerischem und Kosmologischem schwankende Transzendenz gerückt sehen. Und indem Pompeius' Seele diese kurze Schau abhält, wird auf einmal die Erzählung als Erzählung sichtbar, während die Erzählstimme sich ihrerseits in ein noch größeres Außen zurückzieht und auch uns dorthin mitnimmt, von wo aus Pompeius' Seele wieder einer Innenwelt verhaftet erscheint.





Montag, 23. Januar 2023

Noch einmal Wiedersehen auf Lesbos

Das Wort des Magnus zu Cornelia (VIII, 84f)
... uiuit post proelia Magnus
sed fortuna perit. quod defles, illud amasti.

"Magnus hat die Schlacht überlebt, aber sein Kriegsglück ist dahin. Was du jetzt beweinst, das hast du geliebt."

läßt sich auch anders als rücksichtslos oder zurechtweisend lesen: "Siehe, ich habe alles verloren, die Schlacht, einen Krieg, mein Glück, meine Karriere, meine Machtposition. Ich stehe nackt und bloß, aller Zierde beraubt vor dir. Stehst du zu mir auch noch im Unglück, Liebst du mich auch so, liebst du den, der ich bin, auch wenn ich nichts mehr habe außer meinem Selbst, liebst du dieses Selbst noch?" Versteht man Pompeius so, dann ist umgekehrt Cornelias Rede rücksichtslos und an Pompeius' Appell vorbeigesprochen, dann ist Cornelia diejenige, die nicht zu trösten versteht: "Töte mich, opfere mich den Göttern, stimme den Geist deiner Ex-Frau gnädig durch meinen Tod!" Das ist, kann man sich denken, nicht das, was Pompeius in dieser Lage braucht. Statt ihren Mann zu trösten und ihn ihres Beistands zu vergewissern, bietet sie sich als Sühneopfer an und stellt ihr eigenes schlechtes Gewissen ("ich habe allen meinen Ehemännern Unglück gemacht, ich bin verflucht") zur Schau. Nun, Cornelia, dann mach es halt besser, indem du deinem Mann jetzt die Stütze bist, die er braucht.





Donnerstag, 19. Januar 2023

Also noch ein bißchen Lucan.

Gliederung von Buch IX:

  • 1--18 Pompeius Seelenwanderung und Kurzgeographie der Himmelsregionen (nach stoischer Lehre)
  • 19--116 Cato versammelt den Rest der Streitmacht und flieht nach Africa. Dort trifft er auf Cornelia, gleichfalls auf der Flucht vom Schauplatz des Mordes an ihrem Ehemann.
  • 117--293 Wiedersehen, Leichenbegängnis, drohende Meuterei und deren Abwendung
  • 294--410 Zug des Cato in Richtung Utica. Syrte
  • 411--619 Wüste, Durst, Tempel des Jupiter Ammon
  • 620--699 Schlangen I. Entstehung (myth. Exkurs)
  • 700--733 Schlangen II. Katalog
  • 734--838 Schlangen III. Giftunfälle
  • 839--949 Schlangen IV. Das Volk der Psylli. Rettung und Winterlager
  • 949--Ende Caesar in Troia und Ägypten

Zusammenfassung

Die Seele Pompeius' verläßt die sterblichen Überreste des Feldherrn und nimmt als treibende Kraft von Catos Geist Besitz. Indem dieser zum Führer der Senatspartei wird , übernimmt er in Buch IX die Protagonistenrolle von Pompeius. In Korfu versammelt er die verstreuten Reste der Flotte, damit die Schiffe nicht in Caesars Hände geraten, und setzt schließlich nach Libyen über, wo sie mit Cornelia zusammentreffen, die ihnen die Nachricht von Pompeius' Ermordung bringt. Auf diese Nachricht hin beschließt ein Teil der Truppe zu desertieren; Catos Beredsamkeit führt die Abtrünnigen wieder unter seine Fahne. Catos Ziel ist jetzt Westafrica, wo in Utica ein starkes republikanisches Heer stationiert ist, dessen Befehlshaber mit König Juba I ein Bündnis geschmiedet haben. Nachdem der Versuch, die Syrte mit Schiffen zu überqueren, an dem tückischen Gewässer gescheitert ist, entscheidet sich Cato zum Marsch. Es folgt ein Exkurs über die Geographie Libyens, seiner Zugehörigkeit zu Europa, seinem Klima, seinen Bodenschätzen und Exportartikeln; eine Beschreibung der zu durchquerenden Wüste führt zurück zur Handlung. Die Soldaten müssen einen Sandsturm und folgerichtig großen Durst durchstehen, bis man eine Oase und den Tempel des Jupiter Ammon erreicht. Der anschließende Schlangenexkurs bringt einen Entstehungsmythos, dann folgt ein 34 Verse umfassender Katalog in Libyen anzutreffender (Gift-)Schlangenarten. Diese Aufzählung bildet das Vorspiel für die Schilderung einer Reihe exemplarischer Todesfälle durch Schlangenbiß unter den Soldaten. Die Lage entspannt sich erst, als der Zug auf das Volk der Psylli trifft, die nicht nur selbst gegen Schlangengift immun sind, sondern sich auch auf die Rettung Gebissener verstehen. Schließlich erreicht Cato mit seinen Soldaten die Leptis und richtet ein Winterlager ein. In den letzten knapp 160 Versen wechselt die Erzählung zurück zu Caesar, der nach einem Besuch bei den Ruinen Troias sich auf die Jagd nach Pompeius begibt. Einem Gerücht folgend, segelt er nach Ägypten. Dort wird ihm von einem Lakai des Königs Pompeius' Haupt überreicht. Buch IX endet damit, wie Caesar Trauer heuchelt und ein ordentliches Leichenbegängnis für seinen ehemaligen Widersacher anordnet.




Freitag, 4. März 2022

Weiter im Lucan (VIII 33--108)

Wiedersehen auf Lesbos

Die Schlacht ist verloren, Pompeius geflohen. Das Hilfangebot der Larissäer lehnt er ab, gelangt undercover zum Ägäischen Meer und schifft sich auf einem kleinen, kaum seetüchtigen Kahn nach Lesbos ein. Auf der Insel kommt es dann zu einem Wiedersehen mit der Gattin, das man nur als verunglückt bezeichnen kann. Treffsicherer an einander vorbeireden kann man wohl nicht. Wie Pompeius Cornelia ermahnt, sich zusammenzureißen, ohne auf ihre Gefühle achtzugeben; wie Cornelia ihrerseits gar nicht hört, was Pompeius ihr sagt, sondern völlig irrelevante Selbstanklage führt, diese zwei aufeinandertreffenden Monologe überhaupt eine Begegnung zu nennen, scheint verfehlt. Pompeius (VIII 72--85): Was brichst du mir hier gleich zusammen, beim ersten Kratzer (volnere primo)? Das ist einer Tochter so glänzender Vorfahren nicht würdig. Überhaupt, du hast hier die Gelegenheit, unsterblichen Ruhm zu erwerben, also reiß dich zusammen. -- Schon das ist nicht nett. Unsterblicher Ruhm, Vorfahren -- Scheiße, Alter, du hast verloren, was passiert jetzt mit uns? Aber Pompeius setzt noch eins drauf, wenn er seiner Gattin auseinandersetzt, für Frauen sei ein tragisch scheiternder Gatte die einzige Quelle für Ruhm:

laudis in hoc sexu non legum iura nec arma,
unica materia est coniunx miser.

"'Lob können Frauen weder durch Ämter noch durch militärischen Erfolg erwerben, ihre einzige Chance auf Ruhm ist ein gescheiterter Ehemann.'"

Kein Witz. Aber es kommt noch dicker. ... et ipsum / quod sum victus ama, "... und liebe, daß ich unterlag." Und weiter:

... ultima debet
esse fides lugere uirum. tu nulla tulisti
bello damna meo: uiuit post proelia Magnus
sed fortuna perit. quod defles, illud amasti.

"Die äußerste Treue muß darin bestehen, um deinen Mann zu trauern. Du hast durch meinen Krieg keinen Schaden genommen: Ich lebe nach den Kämpfen ja noch; (nur) mein günstiges Geschick ist dahin. Dasjenige aber, das du beweinst, hast du geliebt."

Mit anderen Worten: Wenn du hier flennst, dann hast du nicht mich geliebt sondern nur meinen Erfolg. -- Mh. Trösten geht wohl anders.

Und was macht wohl eine Frau in dieser Situation? Richtig, sie gibt sich selbst die Schuld:

o utinam in thalamos inuisi Caesaris issem
infelix coniunx et nulli laeta marito.
bis nocui mundo: me pronuba ducit Erinys
Crassorumque umbrae, deuotaque manibus illis
Assyrios in castra tuli ciuilia casus,
praecipitesque dedi populos cunctosque fugaui
a causa meliore deos. o maxime coniunx,
o thalamis indigne meis, hoc iuris habebat
in tantum fortuna caput? cur inpia nupsi,
si miserum factura fui?

"'Ach hätte ich doch als unglückbringende Gattin und froh an keinem Mann lieber das Hochzeitsgemach des verhaßten Caesar betreten als deines! Zweimal habe ich der Welt geschadet: mich haben die Erinye und die Schatten der Crassi als Trauzeugen in die Ehe geführt, und infiziert von ihren Manen habe ich die Niederlage in Syrien in die Feldlager des Bürgerkrieges eingeschleppt, alle Völker kopfüber ins Unglück gestürzt und die Götter von der besseren Sache vertrieben. Oh bester Gatte, oh du meiner Gemächer nicht Würdiger, durfte das Schicksal dieses Anrecht auf ein so großes Haupt haben? Warum habe ich Ruchlose geheiratet, wo ich dich doch ins Elend stürzen würde?'"

Überzeugend war schon nicht, was die Erzählstimme VII 706 behauptete, nämlich, daß Siegen für Pompeius schlimmer gewesen wäre. Irgendwie scheint aber Pompeius den Erzähler gehört zu haben, denn was er gegenüber Cornelia absondert -- klingt das nicht wie aufgeschnappt, einstudiert und aufgesagt? flere veta populos heißt es in der Apostrophe VII 707, "verbiete den Völkern zu weinen" und weiter: tam mala Pompei quam prospera mundus adoret, "die Welt soll Pompeius' Unglück ebenso huldigen wie seinem Glück". Nun, die erste, der Pompeius dann wirklich das Weinen verbietet, ist seine eigene Frau.





Dienstag, 15. Februar 2022

Weiter im Lucan

Gliederung Buch VII ab 647

  • 647--711 Flucht des Pompeius
  • 712--727 Pompeius gelangt nach Larissa, wird dort freundlich aufgenommen, weist aber das militärische Hilfsangebot der Stadt zurück.
  • 728--763 Der Schauplatz kehrt zurück zum Schlachtfeld. Ende des Gemetzels. Siegesrausch ...
  • 764--776 ... und -Kater der Soldaten
  • 777--824 Caesars Dämonen; er verweigert den Gefallenen die Bestattung
  • 825--846 Aasfresser
  • 847--872 Das heimgesuchte Land

Moonfall

Wie es wirklich wäre.







Montag, 14. Februar 2022

Weiter im Lucan

Pompeius' Flucht (VII 647-697)

Gründe, die die Erzählstimme für Pompeius' Flucht angibt:

... nec derat robur in enses
ire duci iuguloque pati uel pectore letum.
sed timuit, strato miles ne corpore Magni
non fugeret, supraque ducem procumberet orbis;
Caesaris aut oculis uoluit subducere mortem.
nequiquam, infelix: socero spectare uolenti
praestandum est ubicumque caput. sed tu quoque, coniunx,
causa fugae uoltusque tui fatisque negatum
parte apsente mori ...

Pompeius' Flucht ist eine historische Tatsache, und Lucan kann natürlich den Lauf der Geschichte nicht ändern. Schließlich ist das Epos so etwas wie heute ein historischer Roman, darin kann man alles mögliche erfinden, weitere Protagonisten, Charakterzüge, Motivationen, Nebenschauplätze, Reden, Gespräche, Gedanken, aber natürlich nicht den Ereignisrahmen. (Das heißt, kann man schon, nur ist es dann eben kein historischer Roman mehr.) Will Lucan Pompeius positiv darstellen, muß er also dieser Flucht irgendeinen positiven Aspekt abgewinnen. Also: Es hätte ihm nicht an Stärke gefehlt, selbst den Tod zu suchen; aber er fürchtet, daß dann das ganze Restheer statt zu fliehen über seiner Leiche hingemäht wird. Oder er will seinen Tod den Augen Caesars entziehen. Aber natürlich spielt auch die Gattin eine Rolle bei der Etnscheidung zur Flucht. Und natürlich das Schicksal, das es Pompeius abschlägt, fern von seiner Frau zu sterben. Gegen den letzteren Grund ist schwerlich etwas einzuwenden. Lucan gibt sich redlich Mühe, Pompeius' Flucht nicht nur nicht als feige, sondern gar noch als verantwortliches Handeln hinzustellen. Überzeugend ist es nicht. Überzeugt sind auch nicht Beobachter innerhalb der Erzählung: Das Wort des Potheinos über Magnus (506-509):

... fugit ora senatus,
cuius Thessalicas saturat pars magna uolucres,
et metuit gentes quas uno in sanguine mixtas
deseruit, regesque timet quorum omnia mersit,

zeigt, in welchem Licht die Ereignisse den zeitgenössischen Figuren der Erzählung erscheinen. Mit dem Wort deseruit kann es jedenfalls keinen Zweifel an der moralischen Qualität der Flucht geben: Pompeius hat die verbündeten Völker "im Stich gelassen". So sorgt die Erzählstimme versteckt für die Widerlegung ihrer eigenen, ohnedies nicht eben überzeugenden, Darstellung und Bewertung. Die Frage nach Pompeius' Schuldigwerden in der Flucht bleibt offen. Und sein Tod, in den er sehenden Auges geht, obwohl er abermals fliehen könnte, erscheint in einem anderen Licht, wird zur Sühne. Diesmal, kann man sich als Leser denken, wird er nicht fliehen, noch einmal wird er dem Schicksal nicht auszuweichen versuchen (VIII 575):

sed cedit fatis classemque relinquere iussus
obsequitur, letumque iuuat praeferre timori.

"Aber er gibt seinem Schicksal nach und folgt dem Befehl, das Schiff zu verlassen. Er freut sich, dem Tod gegenüber der Furcht den Vorzug zu geben."





Freitag, 4. Februar 2022

Weiter im Lucan

Sprachliche Schwierigkeiten in Buch VIII

VIII 229--232

... tamen omnia uincens
sustinui nostris uos tantum desse triumphis,
solusque e numero regum telluris Eoae
ex aequo me Parthus adit.

"Dennoch, obwohl ich überall siegte, hielt ich es aus, daß ihr als einzige unter meinen Triumphen fehltet; und als einziger aus der Zahl der östlichen Könige, tritt mir der Parther als Ebenbürtiger entgegen."

Es sind die schon bekannten Lucan'schen Sprachschwurbel, die hier in besonderer Umständlichkeit auftreten. Es geht los mit dem Verb sustinui "hielt stand; ertrug; unterstützte", mit Objektsatz "ertragen, aushalten; auf sich nehmen", dessen Bedeutung man schon arg strecken muß, um noch einen plausiblen Sinn aus der Passage zu ziehen. desse triumphis "den Triumphen fehlen", damit ist gemeint, bei den Triumphen der Gegner nicht dabeigewesen zu sein, also nicht unter die Besiegten zu zählen; "davongekommen sein; unbesiegt geblieben sein". ex aequo adire "als Ebenbürtiger gegenüberstehen", das könnte man sicher auch einfacher haben. (Aber dann brauchte man auch keinen Lucan mehr zu lesen, sondern könnte mit der Zusammenfassung der Pharsalia in leichter Sprache vorlieb nehmen.)

VIII 232ff

... nec munere Magni
stant semel Arsacidae; quis enim post uolnera cladis
Assyriae iustas Latii conpescuit iras?

"Und nicht (nur) einmal blieben die Arsaciden aufrecht stehen; denn wer hat nach dem Trauma der Niederlage bei Carrhae den gerechten Zorn der Römer bezähmt?" Hier liegt die Schwierigkeit darin, auf die Ergänzung der Fokuspartikel nur zu kommen. Das Latenische kennt durchaus Fokuspartikeln, sie finden aber nur äußerst sparsam Anwendung. Warum, wissen die Götter.

VIII 226f

crederet hoc Magnus, pacem cum praestitit undis,
et sibi consultum? ...

"Hätte Magnus das geglaubt, daß er, als er Frieden schuf auf dem Meer, für sich selbst gesorgt haben würde?" Der Konjunktiv Imperfekt crederet stellt eine formelhafte Wendung dar, "hätte glauben können, hätte wohl geglaubt", hier als Variante von crederes "man hätte glauben können, daß ...", das Lateinische bevorzugt in dieser Wendung den Irrealis der Gegenwart, warum auch immer. Das cum ist hier ein sogenanntes cum identicum "indem, dadurch daß", "indem er auf dem Meer Frieden schuf". Der Form nach ist consultum (esse) Infinitiv Perfekt, also vorzeitig. Aber vorzeitig zu was? Doch nur zum Irrealis crederet "hätte geglaubt": "Hätte Magnus geglaubt, daß für ihn selbst gesorgt worden war, indem er ..." Wir würden hier im Deutschen wohl die etwas schräge Form "für sich selbst gesorgt haben würde" nehmen. Pompeius hat ja tatsächlich für sich selbst gesorgt, aber das wird erst in der Zukunft offenbar, dann nämlich, wenn die später Wirkung sich zeigt und die Folgen der Tat seiner Jugend sich als segensreich herausstellen (herausgestellt haben werden?). Tempora sind manchmal komische Erscheinungen.

VIII 311ff

quod si nos Eoa fides et barbara fallent
foedera, uolgati supra commercia mundi
naufragium fortuna ferat

"Wenn also die Treue des Ostens und die Verträge mit den Barbaren nicht halten, was sie versprechen, dann wird das Schicksal den Schiffbrüchigen über die Verkehrswege der bekannten Welt hinaus forttragen."

Mit naufragium meint sich Pompeius als Redner selbst, erst dann ergibt die Stelle überhaupt Sinn.

VIII 314ff

... sat magna feram solacia mortis
orbe iacens alio, nihil haec in membra cruente,
nil socerum fecisse pie. ...

"Werde ich angesichts des Todes den zufriedenstellenden Trost haben, wenn ich in einer fremden Weltregion tot darniederliege, daß mein Schwiegervater weder seine Wut an meinem Leichnam auslassen noch ihm die letzte Ehre erweisen kann." Hier ist es die Komplexität des Gedankens selbst, der zusammen mit der äußerst knappen Andeutung cruente und pie, die jeweils die Schändigung des bzw. Ehrerweisung gegen den Leichnam zusammenfassen, das Verständnis der Passage erschwert.

VIII 553--556

non domitor mundi nec ter Capitolia curru
inuectus regumque potens uindexque senatus
uictorisque gener, Phario satis esse tyranno
quod poterat, Romanus erat

"(Auch als) Nicht-Bezwinger der Welt, und nicht dreimal auf dem Wagen um den Kapitol Gefahrener, oder Herr über Könige oder Retter des Senats oder Schwiegersohn des Siegers, was dem Ägyptischen König genug hätte sein können, er war (immerhin) ein Römer." Das ergibt auch auf deutsch wenig Sinn. Hier muß kräftig ergänzt und gedreht werden, damit deutlich wird, was Lucan meint: Romanus erat, quod non domitor ... poterat satis esse tyranno.

"Selbst wenn (Magnus) nicht der Bezwinger der Welt gewesen, nicht auf dem Triumphwagen um den Kapitol gefahren worden, nicht der Retter des Senats und nicht der Schwiegersohn Caesars gewesen wäre, so wäre er doch immerhin eines noch, und das wäre eigentlich schon genug für einen König der Ägypter: ein Römer."

(Der Indikativ des Modals kann hier wieder als Irrealis wiedergegeben werden: "hätte für einen ägyptischen König genug sein können")





Dienstag, 25. Januar 2022

Lucan -- Plutarch

Anläßlich der Frage, wie denn andere antike Autoren Pompeius Verhalten nach der Niederlage beurteilen, habe ich mir mal Plutarchs Parallelbiographien vorgenommen und ein bißchen die Pompeiusbiographie durchstöbert. Zwar hält sich Plutarch mit einer Bewertung der Flucht zurück (Pompeius wird von Plutarch insgesamt positiv dargestellt); spannend ist jedoch der Befund, daß mehrere Passagen zwischen Lucan und Plutarch bis in einzelne Formulierungen hinein aufeinander bezogen werden können. Es klingt, als hätte Plutarch bei Lucan abgeschrieben. Das hat er sicher nicht getan, aber beide dürften aus denselben Quellen (dafür käme etwa der bei Plutarch namentlich genannte, leider bis auf Fragmente nicht erhaltene Asinius Pollio in Frage) geschöpft haben. Ich erlaube mir mal die Muße, dem im einzelnen nachzugehen:

Es fängt damit an, daß auch bei Plutarch Pompeius von seinen Anhängern zur Schlacht gedrängt wird. Freilich beschreibt Plutarch die Entwicklung ein bißchen anders, als bei Lucan dargestellt. Nach Aukunft des Biographen kommt Pompeius ein Gerede unter Offizieren seiner Reiterei zu Ohren: sobald man Caesar erledigt habe, müsse man auch Pompeius beseitigen. In dieser Darstellung beargwöhnen die Anhänger der Senatspartei also die allzu große Machtstellung ihres Anführers. Vielleicht habe Pompeius, so Plutarch weiter, auch deswegen Cato für nichts kommen lassen und ihn mit der Beaufsichtigung des Gepäcks an der Küste zurückgelassen: damit dieser ihn nach dem Sieg gegen Caesar nicht zwingen könne, sein eigenes Kommando niederzulegen. Vorwürfe wären laut geworden, Pompeius diene nicht Rom, sondern folge seiner eigenen Agenda (ὡς οὐ Καίσαρα καταστρατηγῶν, ἀλλὰ τὴν πατρίδα καὶ τὴν βουλήν, ὅπως διὰ παντὸς ἄρχῃ, "daß er nicht gegen Caesar, sondern gegen sein eigenes Vaterland zu Felde ziehe, damit er sein Amt für immer behalte"). So oder so, Pompeius muß, will er nicht seine eigenen Offiziere gegen sich aufbringen, sozusagen den Beweis erbringen, daß die Anschuldigungen gegen ihn haltlos sind. (Übrigens werden bei Plutarch dieselben Akteure, die den Heerführer zum Losschlagen zwingen, später, nach der Katastrophe, alles besser wissen und Pompeius Vorhaltungen zu seiner Strategie machen.)

In VII, 428--431 reflektiert die Erzählstimme darüber, was die beiden bei Pharsalos aufeinander losgehenden Heere zusammen unter gemeinsamer Führung alles hätten erreichen können. Statt die Parther zu besiegen und die Skythen, statt die Grenzen des Imperium Romanum bis nach Indien auszudehnen, zieht es die Weltmacht Rom vor, sich selbst zu zerlegen. Genau dieser Gedanke findet sich auch bei Plutarch (Pompeius, 70,2--3):

<

>ὅπλα γὰρ συγγενικὰ καὶ τάξεις ἀδελφαὶ καὶ κοινὰ σημεῖα καὶ μιᾶς πόλεως εὐανδρία τοσαύτη καὶ δύναμις αὐτὴ πρὸς ἑαυτὴν συνέπιπτεν, ἐπιδεικνυμένη τὴν ἀνθρωπίνην φύσιν, ὡς ἐν πάθει γενομένη τυφλόν ἐστι καὶ μανιῶδες. ἦν μὲν γὰρ ἤδη καθ’ ἡσυχίαν χρῄζουσιν ἄρχειν καὶ ἀπολαύειν τῶν κατειργασμένων τὸ πλεῖστον καὶ κράτιστον ἀρετῇ γῆς καὶ θαλάσσης ὑπήκοον, ἦν δ’ ἔτι τροπαίων καὶ θριάμβων ἔρωτι βουλομένους χαρίζεσθαι καὶ διψῶντας ἐμπίπλασθαι Παρθικῶν πολέμων ἢ Γερμανικῶν. πολὺ δὲ καὶ Σκυθία λειπόμενον ἔργον καὶ Ἰνδοί, καὶ πρόφασις οὐκ ἄδοξος ἐπὶ ταῦτα τῆς πλεονεξίας ἡμερῶσαι τὰ βαρβαρικά. τίς δ’ ἂν ἢ Σκυθῶν ἵππος ἢ τοξεύματα Πάρθων ἢ πλοῦτος Ἰνδῶν ἐπέσχε μυριάδας ἑπτὰ Ῥωμαίων ἐν ὅπλοις ἐπερχομένας Πομπηΐου καὶ Καίσαρος ἡγουμένων, ὧν ὄνομα πολὺ πρότερον ἤκουσαν ἢ τὸ Ῥωμαίων; οὕτως ἄμικτα καὶ ποικίλα καὶ θηριώδη φῦλα νικῶντες ἐπῆλθον.

"Denn die miteinander verwandten Waffen, verbrüderten Reihen, gemeinsamen Feldzeichen, dieser Mut und diese Gewalt einer einzigen Stadt gingen auf sich selber los und zeigten damit die menschliche Natur auf, die in der Leidenschaft blind und rasend ist. Ihnen war doch, wenn sie nur gewollt hätten, in Ruhe das Eroberte zu beherrschen und zu genießen, das meiste und beste an Land und Meer untertan; und wenn sie ihrer Lust auf Beute und Triumphe frönen wollten, hätten sie ihren Durst mit Parther- und Germanenkriegen löschen können. Auch gab es noch genug Werke zu vollbringen bei Skythen und Indern, und über die Gier hinaus ist der Vorwand, Barbaren zu bezähmen, nicht ganz ehrlos. Welcher skythische Reiter, welche parthischen Pfeile, welche Mittel Indiens hätten siebzigtausend Römer unter Waffen aufgehalten, die von Caesar oder Pompeius angeführt worden wären? deren Namen [diese Völker] früher gehört hatten als den Roms, so wilde und verschiedenartige und unzivilisierte Völker hatten sie auf ihrem Marsch unterworfen."

(Da mein Griechisch nur diy-Qualität hat, bin ich um Hinweise dankbar, warum τυφλόν und μανιῶδες neutrum sind, obwohl sie sich doch nur auf ἀνθρωπίνην φύσιν beziehen können.)

Die nächste "Konkordanz" (um es mal so zu nennen) findet sich in einer Szene im achten Buch, wo die überlebenden Senatoren und Pompeius nach der Flucht beraten, was nun zu tun sei. Pompeius schlägt vor, die Parther (ja, ausgerechnet die) als Bündnispartner im Kampf gegen Caesar zu gewinnen. Davon rät Lentulus (den wir schon kennen, das war der Konsul, unter dem der Bürgerkrieg ausbrach) entschieden ab: So schlimm, daß man schon die Parther zu Hilfe holen muß, ist die Lage nicht; wer sich mit den Parthern einläßt, macht sich zu deren Sklaven, da braucht man nicht mehr von Freiheit zu schwafeln; wenn Pompeius, den der Partherkönig zu fürchten gelernt hat, jetzt als dessen Bittsteller zu ihm kommt, wird das dem Herrscher zu Kopf steigen; die Parther sind Barbaren; der König wird verlangen, daß Pompeius sich vor ihm erniedrigt; und sollen etwa Parther die geschlagene Wunde eher rächen als Rom selbst es tut? Sollen diese Völker nicht lieber keinen Wind von Pompeius' Niederlage bekommen? Der einzige Trost Roms ist doch, keinem König zu dienen; sollen wir jetzt Roms Tore für Barbaren öffnen und den Feldzeichen folgen, die die Parther einst den beiden Crassi abgenommen haben? Und überhaupt, glaubt Pompeius wirklich, er, der als einziger König in Thessalien nicht dabei war, wird jetzt gemeinsame Sache -- mit dem Verlierer machen? Außerdem taugen die Parther nicht für den Kampf, sind unzuverlässig, feige, zwar feine Bogenschützen aber lausig im Schwertkampf, neigen zur Flucht, halten nicht stand, lassen sich leicht abwehren; und schließlich ist Pompeius' Schicksal ja noch das leichtere: mehr als den Tod hat er nicht zu erleiden, aber Cornelia? Die losen Sitten der Parther sind wohlbekannt, sie treiben Vielweiberei und Inzest obendrein: nach Pomepius' Tod wäre Cornelia die tausendste unter tausend Frauen des Herrschers, wobei der Umstand, daß sie die Gattin eines Crassus war, sie dem König unter allen seinen Frauen zur reizvollsten machen würde.

Bei Plutarch findet sich Pompeius' Überlegung wieder, zu den Parthern zu fliehen (Pompeius, 76,3-4):

οὐ μὴν ἀλλ’ ἐκ τῶν παρόντων κρίνειν τι καὶ πράττειν ἀναγκαζόμενος, ἐπὶ τὰς πόλεις περιέπεμπε· τὰς δ’ αὐτὸς περιπλέων ᾔτει χρήματα καὶ ναῦς ἐπλήρου. τὴν δ’ ὀξύτητα τοῦ πολεμίου καὶ τὸ τάχος δεδοικώς, μὴ προαναρπάσῃ τῆς παρασκευῆς αὐτὸν ἐπελθών, ἐσκόπει καταφυγὴν ἐπὶ τῷ παρόντι καὶ ἀναχώρησιν. ἐπαρχία μὲν οὖν οὐδεμία φύξιμος ἐφαίνετο βουλευομένοις αὐτοῖς, τῶν δὲ βασιλειῶν αὐτὸς μὲν ἀπέφαινε τὴν Πάρθων ἱκανωτάτην οὖσαν ἔν τε τῷ παρόντι δέξασθαι καὶ περιβαλεῖν σφᾶς ἀσθενεῖς ὄντας, αὖθίς τε ῥῶσαι καὶ προπέμψαι μετὰ πλείστης δυνάμεως ...

"Aber [Pompeius] mußte nun anhand der Lage urteilen und handeln, und so schickte er teils Boten nach verschiedenen Städten aus, teil fuhr er selbst hin und bat um Mittel und warb Besatzung an. Aber da er die Schnelligkeit und Beweglichkeit seines Gegeners fürchtete, prüfte er die Möglichkeiten eines vorübergehenden Fluchtziels, damit Caesar ihm nicht mitten in seinen Vorbereitungen zuvorkomme. Da sie berieten, schien ihnen aber keine Provinz ein geeignetes Refugium, und unter den Königreichen sprach Pompeius sich selbst für das der Parther aus, das, wie er meinte, am geeignetsten wäre, sie zu beherbergen und ihnen in ihrem desolaten Zustand Schutz zu bieten, sowie, sie zu stärken und später mit einer starken Streitmacht auszusenden ..."

Delikat ist natürlich, daß die Parther, seit der Gründung der Provinz Syrien 64/63 v. Chr. Nachbarn der Römer, denen wenige Jahre zuvor (unter einem Mann namens Crassus, der dritte im ersten Triumvirat, zwischen Caesar, Pompeius und ihm selbst) in der Schlacht bei Carrhae gewaltig eins auf die Mütze gegeben und ihnen -- die größte denkbare Schande -- die Legionsadler abgenommen haben. Das Verhältnis zwischen Rom und den Parthern, noch nie rosig, ist seitdem gewissermaßen angespannt. Weswegen denn bei Lucan Lentulus fleißig Salz in diese Wunde reibt. Neben militärischen und pragmatischen Gründen geht es Lentulus in seiner Rede besonders um Fragen der Würde, oder, um es modern auszudrücken, um das wünschenswerte Narrativ. Daß auf die Parther kein Verlaß ist, scheint da nur Vorwand. Das Motiv findet sich bei Lucan wie bei Plutarch (76, 5):

Θεοφάνει δὲ τῷ Λεσβίῳ μανικὸν ἐδόκει τριῶν ἡμερῶν πλοῦν ἀπέχουσαν Αἴγυπτον ἀπολιπόντα καὶ Πτολεμαῖον, ἡλικίαν μὲν ἀντίπαιδα, φιλίας δὲ καὶ χάριτος πατρῴας ὑπόχρεων, Πάρθοις ὑποβαλεῖν ἑαυτόν, ἀπιστοτάτῳ γένει ...

"Theophanos aus Lesbos hielt es für Wahnsinn, das nur drei Segeltage entfernte Ägypten und Ptolemaios, der noch ein Knabe und ihm, Pompeius, wegen des Gefallens, dem ihm sein, Pompeius' Vater erwiesen habe, verpflichtet sei, abzulehnen, andererseits aber sich den Parthern auszuliefern, einem äußerst unzuverlässigen Volk ..."

Trotz der Unterschiede ist es bemerkenswert, daß der grobe Ablauf der Dinge: Flucht, Beratung, Vorschlag des Pompeius, Ablehnung des Vorschlags und Entscheidung für Ägypten, in beiden Erzählungen gleich ist. Gerade die Idee, sich mit den Parthern einzulassen, muß angesichts des römisch-parthischen Verhältnisses so extravagant anmuten, daß darauf zwei Autoren nicht unabhängig voneinander (etwa, um die Verzweiflung Pompeius' darzustellen) gekommen sein werden. Nicht unter die erzählerische Freiheit gehört natürlich die Flucht nach Ägypten, denn daß Pompeius dort ermordert wurde, ist eine historische Tatsache, die keinen Spielraum läßt -- dort muß jedes Epos, jeder historische Roman, wenn er historisch sein will, hin.

Freiheit gibt es bei Reden, Dialogen, Gedanken, Handlungsmotivationen, Charakterzeichnungen. Und auf diesem Feld der Freiheiten sind Parallelen zwischen Autoren (noch dazu zwischen Autoren ganz verschiedener Genres und Absichten) überhaupt erst bemerkenswert. Zum Beispiel ist da die Sache mit Cornelia. Theophanes/Lentulus führt nämlich als eines der Argumente, die gegen eine Flucht ins Partherreich sprechen, die Gefahr für Leib, Leben und guten Ruf (wobei letzterer am schwersten zu wiegen scheint) der Gattin des Heerführers an (76,6):

καὶ γυναῖκα νέαν οἴκου τοῦ Σκηπίωνος εἰς βαρβάρους κομίζειν ὕβρει καὶ ἀκολασίᾳ τὴν ἐξουσίαν μετροῦντας, ᾗ, κἂν μὴ πάθῃ, δόξῃ δὲ παθεῖν, δεινόν ἐστιν ἐπὶ τοῖς ποιῆσαι δυναμένοις γενομένῃ. τοῦτο μόνον, ὥς φασιν, ἀπέτρεψε τῆς ἐπὶ τὸν Εὐφράτην ὁδοῦ Πομπήϊον

"[Theophanos hielt es für Wahnsinn], ... und darüber hinaus eine junge Frau aus dem Hause der Scipionen zu den Barbaren zu bringen, die ihre Macht nach dem Ausmaß ihrer Lüsternheit und Zügellosigkeit bemäßen, für die es, selbst wenn ihr nichts zustoßen sollte, schrecklich wäre, auch nur in ihrem Ruf Schaden zu nehmen, als eine, die unter Leute geraten ist, die ihr etwas anzutun auch nur in der Lage sind. Dieses Argument allein, heißt es, brachte Pompeius wieder ab vom Plan einer Reise zum Euphrat."

Die parallele Stelle bei Lucan liest sich so (VIII 395--416)

sed tua sors leuior, quoniam mors ultima poena est
nec metuenda uiris. at non Cornelia letum
infando sub rege timet. num barbara nobis
est ignota Venus, quae ritu caeca ferarum
polluit innumeris leges et foedera taedae
coniugibus thalamique patent secreta nefandi
inter mille nurus? epulis uaesana meroque
regia non ullis exceptos legibus audet
concubitus: tot femineis conplexibus unum
non lassat nox tota marem. iacuere sorores
in regum thalamis sacrataque pignora matres.
damnat apud gentes sceleris non sponte peracti
Oedipodionias infelix fabula Thebas:
Parthorum dominus quotiens sic sanguine mixto
nascitur Arsacides! cui fas inplere parentem,
quid rear esse nefas? proles tam clara Metelli
stabit barbarico coniunx millesima lecto.
quamquam non ulli plus regia, Magne, uacabit
saeuitia stimulata Venus titulisque uirorum;
nam, quo plura iuuent Parthum tormenta, fuisse
hanc sciet et Crassi: ceu pridem debita fatis
Assyriis trahitur cladis captiua uetustae.

"Aber dein Geschick ist leichter, denn für dich ist die höchste Strafe der Tod, und den fürchten Männer nicht. Auch Cornelia fürchtet nicht den Tod unter einem unsäglichen König. Doch ist denn die losen Sitten der Barbaren uns nicht bekannt, die blindwütig nach Art der Tiere die guten Sitten und den Ehebund mit Vielweiberei besudeln? Daß die Geheimnisse des unaussprechlichen Hochzeitsgemachs offen zu Tage liegen zwischen tausend Frauen? Vom Gelage und vom vom Wein in Raserei versetzt, erlaubt sich die Königshalle alle möglichen, von keinen Gesetzen gezügelten Paarungen: Einen einzigen Mann erschöpft die ganze Nacht nicht mit all den Umarmungen der Frauen. In den königlichen Gemächern haben schon die eigenen Schwestern und, geheiligtes Unterpfand, die eigene Mutter gelegen. Die Geschichte eines unbeabsichtigen Vergehens verurteilt unter den Völkern das Theben des Ödipus: wie oft aber entstammt ein Arsacide als Herrscher über die Parther einer solchen Vermischung. Was, frage ich mich, ist tabu für einen, dem es erlaubt ist, die eigene Mutter zu schwängern? Der berühmte Sproß des Metellus wird die tausendste Frau im Bett des Barbaren sein. Und dabei wird die Lüsternheit des Königs, gereizt durch die Grausamkeit und das Ansehen ihrer frühreren Männer, für keine andere so bereit sein wie für Cornelia; denn damit der Parther seine Grausamkeit besser genießen kann, wird man ihn wissen lassen, daß sie einst Crassus' Frau gewesen ist: wie vom Schicksal den Syrern noch schuldig geblieben, wird man sie als Gefangene einer alten Niederlage betrachten."

Eine weitere Parallele ist Pompeius' Traum vor der Schlacht. Dazu heißt es bei Plutarch (68,2):

τῆς δὲ νυκτὸς ἔδοξε κατὰ τοὺς ὕπνους Πομπήϊος εἰς τὸ θέατρον εἰσιόντος αὐτοῦ κροτεῖν τὸν δῆμον, αὐτὸς δὲ κοσμεῖν ἱερὸν Ἀφροδίτης νικηφόρου πολλοῖς λαφύροις.

"In der Nacht hatte Pompeius einen Traum, in dem ihm, als er das Theater betrat, das Volk applaudierte, und er selbst den Tempel der Venus Victrix mit vielen Beutestücken schmückte."

Daß der Traum von den applaudierenden Theaterbesuchern bei Plutarch wie bei Lucan erwähnt wird, kann schwerlich Zufall sein. Es kommt aber noch besser. καὶ πανικοί τινες θόρυβοι διᾴττοντες ἐξανέστησαν αὐτόν, "und vorbeiziehender tumultuöser Lärm weckte ihn", geht die Passage bei Plutarch weiter. Wenn es bei Lucan nun heißt,

... ne rumpite somnos,
castrorum uigiles, nullas tuba uerberet aures.
crastina dira quies et imagine maesta diurna
undique funestas acies feret, undique bellum.
unde pares somnos populi noctemque beatam?

"zerreißt ihm den Schlaf nicht, Lagerwachen, die Posaune soll keine Ohren drangsalieren. Die fürchterliche, von den Bildern des Tages verzweifelte Stille wird ihn überall tödliche Schlachtreihen sehen lassen, überall Krieg."

dann klingt das wie ein Kommentar zu Plutarch (was chronologisch nicht möglich ist, nur literarisch): Eben der Lärm, von dem Plutarch schreibt, daß er den Feldherrn aus dem Schlaf reißt, soll bitte schweigen, damit Pompeius eine letzte ruhige Nacht verbringen kann. Umgekehrt und chronologisch möglich ist die umgekehrte Folge, daß Plutarch in seinem Text dem Pompeius ziemlich kurzangebunden das Ausschlafen verweigert, das ihm Lucan noch gewünscht hat.

Ein paar Tage später, die Schlacht ist vorbei, erscheint Pompeius bei seiner Gattin auf Lesbos. Sorgen quälen Cornelia, nachts träumt sie von Thessalien, tags läuft sie zum Strand, hält Ausschau nach Schiffen, wagt nicht, nach Nachrichten über Pompeius zu fragen. Bei Lucan ist sie es selbst, die dann eines Tages ihren Mann, verdreckt und abgerissen, aus einem schmalen Kahn steigen sieht. In einer sarkastischen Apostrophe heißt es dann: quid perdis tempora luctus? / cum possis iam flere, times "Was verschwendest du noch Zeit zum Trauern? Während du schon weinen könntest, bist du noch mit Bangen beschäftigt." Bei Plutarch ist es ein Bote, der nicht zu sagen wagt, was passiert ist, den aber seine Tränen verraten. Cornelia schwinden die Sinne, und "als sie wieder zu sich kam", schreibt Plutarch:

συννοήσασα τὸν καιρὸν οὐκ ὄντα θρήνων καὶ δακρύων, ἐξέδραμε διὰ τῆς πόλεως ἐπὶ θάλατταν.

"begriff sie, daß jetzt nicht die Zeit war für Klagen und Tränen und lief durch die Stadt zum Meer."

Das Motiv der Zeitverschwendung ist dasselbe, nur mit unterschiedlicher Ausdeutung. Bei Lucan soll Cornelia keine Zeit mit Bangen verschwenden, sondern gleich mit dem Trauern anfangen; bei Plutarch wäre das Trauern in diesem Moment Zeitverschendung, oder die Zeit dafür ist noch nicht da. Fast klingt es, als hätte Plutarch, der Latein erst im Erwachsenenalter lernte, bei seinen Recherchen das Lucansche Latein nicht verstanden (wofür wir vollstes Verständnis haben).

Zu den Konventionen antiker Geschichtsschreibung gehört, daß Reden frei erfunden sind. Damit wird dem Autor ein erzählerisch-dramatisches Element ermöglicht, das er im Rahmen des feststehenden Anlasses sowie der Folgen der Rede frei ausgestalten kann. Sowohl bei Plutarch als auch bei Lucan wird das Wiedersehen zwischen Pompeius und Cornelia in einem Zwiegespräch gestaltet. Hier findet sich eine weitere Parallele, wenn nämlich Cornelia sich die Schuld am Desaster gibt, weil sie ihrem Mann kein Glück gebracht habe: ihr Fluch sei es, ihren Ehemännern Unglück zu bringen, erst Crassus, jetzt Pompeius. Bei Lucan klingt das so (VIII 88--105):

'o utinam in thalamos inuisi Caesaris issem
infelix coniunx et nulli laeta marito.
bis nocui mundo: me pronuba ducit Erinys
Crassorumque umbrae, deuotaque manibus illis
Assyrios in castra tuli ciuilia casus,
praecipitesque dedi populos cunctosque fugaui
a causa meliore deos. o maxime coniunx,
o thalamis indigne meis, hoc iuris habebat
in tantum fortuna caput? cur inpia nupsi,
si miserum factura fui? nunc accipe poenas,
sed quas sponte luam: quo sit tibi mollius aequor,
certa fides regum totusque paratior orbis,
sparge mari comitem. mallem felicibus armis
dependisse caput: nunc clades denique lustra,
Magne, tuas. ubicumque iaces ciuilibus armis
nostros ulta toros, ades huc atque exige poenas,
Iulia crudelis, placataque paelice caesa
Magno parce tuo.'

'Ach hätte ich doch als unglückbringende Gattin und froh an keinem Mann lieber das Hochzeitsgemach des verhaßten Caesar betreten! Zweimal habe ich der Welt geschadet: mich haben die Erinye und die Schatten der Crassi als Trauzeugen in die Ehe geführt, und infiziert von ihren Manen habe ich die Niederlage in Syrien in die Feldlager des Bürgerkrieges eingeschleppt, alle Völker kopfüber ins Unglück gestürzt und die Götter von der besseren Sache vertrieben. Oh bester Gatte, oh du meiner Gemächer nicht Würdiger, durfte das Schicksal dieses Anrecht auf ein so großes Haupt haben? Warum habe ich Ruchlose geheiratet, wo ich dich doch ins Elend stürzen würde? Nun laß mich die Strafe zahlen, die ich dir freiwillig ableiste: auf daß dir das Meer freundlicher, die Treue der Könige sicher, der ganze Erdkreis bereiter sei, dir zu dienen -- wirf deine Gefährtin ins Meer. Ich wollte, ich könnte mit glückbringenden Waffen dein Haupt einlösen: nun entsühne wenigstens, Magnus, deine Niederlage. Und du, wo auch immer dein Grab sein mag, grausame Iulia: sei hier anwesend, fordere, nachdem du dich mit dem Bürgerkrieg für unsere Ehe gerächt hast, die Strafe; aber schone nach dem Tod deiner Nebenbuhlerin wenigstens deinen geliebten Magnus.'

Und zum Vergleich Plutarch (74,3):

ἀπαντήσαντος δὲ τοῦ Πομπηΐου καὶ δεξαμένου ταῖς ἀγκάλαις αὐτὴν ὑπερειπομένην καὶ περιπίπτουσαν, "Ὁρῶ σε," εἶπεν, "ἄνερ, οὐ τῆς σῆς τύχης ἔργον, ἀλλὰ τῆς ἐμῆς, προσερριμμένον ἑνὶ σκάφει τὸν πρὸ τῶν Κορνηλίας γάμων πεντακοσίαις ναυσὶ ταύτην περιπλεύσαντα τὴν θάλασσαν. τί μ’ ἦλθες ἰδεῖν καὶ οὐκ ἀπέλιπες τῷ βαρεῖ δαίμονι τὴν καὶ σὲ δυστυχίας ἀναπλήσασαν τοσαύτης; ὡς εὐτυχὴς μὲν ἂν ἤμην γυνὴ πρὸ τοῦ Πόπλιον ἐν Πάρθοις ἀκοῦσαι τὸν παρθένιον ἄνδρα κείμενον ἀποθανοῦσα, σώφρων δὲ καὶ μετ’ ἐκεῖνον, ὥσπερ ὥρμησα, τὸν ἐμαυτῆς προεμένη βίον· ἐσωζόμην δ’ ἄρα καὶ Πομπηΐῳ Μάγνῳ συμφορὰ γενέσθαι."

"Pompeius trat ihr entgegen, fing die Taumelnde auf und nahm sie in seine Arme. "Ich sehe dich", sagte sie, "Mann, nicht als das Werk deines Geschicks, sondern des meinen, zurückgeworfen auf ein einziges Schiff, der du vor deiner Hochzeit mit Cornelia dasselbe Meer mit fünfhundert befahren hast. Warum kamst du mich zu sehen und hast mich nicht dem bösen Geist überlassen, mich, die ich auch dich mit so großem Unglück überhäuft habe? Was für eine glückliche Frau wäre ich gewesen, wenn ich gestorben wäre, bevor ich hätte hören müssen, daß Publius, dessen jungfräuliche Braut ich war, bei den Parthern geblieben war, und wie vernünftig, wenn ich nach ihm, wie ich es versucht habe, mein Leben selbst beendet hätte; wie es scheint, wurde ich gerettet, nur um auch Pompeius Magnus Verderben zu bringen."

Und damit lassen wir es mal gut sein mit dem Exkurs. Es gibt noch mehr Parallelen, etwa Caesars seltsames Seeabenteuer; die Art des Begräbnisses, das Pompeius am Ort seiner Ermordung durch einen Diener zuteil wird (davon später mehr); und wahrscheinlich habe ich noch ein paar weitere Parallelen übersehen. Plutarch und Lucan haben sich, so viel ist deutlich geworden, von denselben Quellen für ihre jeweiligen Ausgestaltungen des Dramas um die Schlacht von Pharsalos inspirieren lassen.





Donnerstag, 6. Januar 2022

Weiter im Lucan

VII 597--697

hic patriae perit omne decus (VII 597): Die Schlacht bei Pharsalos darf als Ende einer Epoche betrachtet werden, deren Untergang darin liegt, daß ihr der sie prägende Stand abhanden gekommen ist. Rom würde sich so oder so für immer gewandelt haben, weil keiner mehr da ist, der die Republik, so wie sie einmal war, hätte leben können. Rom ist eine Idee, die von Menschen lebt, die diese Idee verkörpern können. Dazu bedarf es eines ganzen Standes. Die Republik ist schon deshalb am Ende, weil die sie tragende Senatsaristokratie so stark geschrumpft ist, daß sich damit wortwörtlich kein Staat mehr machen läßt. Weswegen auch ein Jahrzehnt später die Versuche der Caesarmörder, die Republik wiederherzustellen, scheitern mußten, schon deswegen, aus Personalmangel. (Vgl. Jochen Bleicken (2010). Augustus. Eine Biographie)

Ein Einzelschicksal steht für diesen Untergang, der in 15 Versen (599--616) erzählte Tod und letztes Wort des Domitius (Lucius Domitius Ahenobarbus, Konsul 54, erst zerstritten, dann versöhnt mit Pompeius, nach der Schlacht von Corfinium von Caesar begnadigt, schloß sich dann aber, nachdem er einen erfolglosen Aufstand in Massilia angezettelt hatte, Pompeius in Griechenland an. Nach der Schlacht bei Pharsalos wurde er auf der Flucht erschlagen). Die Szene gibt dem Erzähler Gelegenheit, einmal den schurkischen Charakter Caesars darzustellen, zum anderen, den unterlegenen Gegner einen kräftigen Fluch aussprechen zu lassen: "Du hast den bösen Handel noch nicht abgeschlossen, Caesar, unterliegst einem zweifelhaften Schicksal, bist ein Geringerer als dein Schwiegersohn. Ich aber gehe frei und sicher und mit Magnus als meinem Feldherrn hinüber zu den stygischen Schatten. Hoffen darf ich, indem ich sterbe, daß du, unterlegen in einem brutalen Krieg, Pompeius und uns allen bittere Strafe leisten wirst." Zuvor hat Caesar noch seinen Spott mit dem Sterbenden getrieben:

uiderat in crasso uersantem sanguine membra
Caesar, et increpitans 'iam Magni deseris arma,
successor Domiti; sine te iam bella geruntur'
dixerat. ...

"Caesar sah den sich in seinem dicken Blut wälzenden [Domitius] und verspottet ihn: "Jetzt läßt du, Domitius, Magnus schon im Stich. Jetzt müssen die Kämpfe wohl ohne dich stattfinden."

Eine besondere Spitze liegt darin, daß Domitius 49 vom Senat zum Nachfolger (successor) Caesars als Statthalter in Gallien ernannt worden war. Nun gebraucht Caesar das Wort successor, um Domitius zu verhöhnen: "Nachfolger, ha! Schau dich nur mal an, ein feiner "Nachfolger" wärst du mir geworden."

Daß es für Lucan nicht um die Antipoden Caesar und Pompeius geht, sondern um die Freiheit und ihren Feind, wird in dieser Passage (VII 691--697) deutlich:

... ceu flebilis Africa damnis
et ceu Munda nocens Pharioque a gurgite clades,
sic et Thessalicae post te pars maxima pugnae
non iam Pompei nomen populare per orbem
nec studium belli, sed par quod semper habemus,
libertas et Caesar, erit; teque inde fugato
ostendit moriens sibi se pugnasse senatus.

"Wie im katastrophengebeutelten Afrika, wie im verlustreichen Munda, wie bei den Niederlagen am Nil, wird es auch in Thessalien nach dir, [Pompeius], nicht um deinen weltberühmten und verehrten Namen, auch nicht um die Lust am Kampf, sondern allein um die zwei Gegner gehen, die wir schon lange kennen: die Freiheit hier, Caesar dort."





Mittwoch, 5. Januar 2022

Bekanntlich ist die Achse, um die unser Planet seine Eigendrehung vollzieht, um ca. 23° geneigt und zeigt, zumindest auf kurze Zeiträume betrachtet, immer auf den gleichen Punkt am Himmel, was die unterschiedliche Tageslänge im Sommer und im Winter sowie die Jahreszeiten hervorruft. Im Winter scheint die Nordhalbkugel maximal "von der Sonne weggekippt", im Sommer umgekehrt. Der Punkt größter Gekipptheit auf die Sonne hin oder von der Sonne weg ist an den sogenannten Solstitien erreicht. In dieser Anordnung würde eine Ebene, die von der Erdachse aufgespannt wird und die Ekliptik im rechten Winkel schneidet, genau durch den Mittelpunkt der Sonne gehen, während dieselbe Ebene zu den Tag- und Nachtgleichen im März bzw. im September quasi tangential zur Erdbahn um die Sonne liegen würde.

Warum aber nimmt bei der Wintersonnenwende die Tageslänge nicht gleichmäßig morgens und abends zu, sondern abends schneller, so daß der früheste Sonnenuntergang in unseren Breiten schon Mitte Dezember, der späteste Sonnenaufgang jedoch erst einige Tage nach der Wintersonnenwende stattfindet?

Die Antwort hat erstens mit dem Unterschied zwischen siderischem Tag und Sonnentag zu tun und zweitens mit der unterschiedlichen Bahngeschwindigkeit der Erde zu unterschiedichen Jahreszeiten. Angenommen, die Erde würde sich relativ zum Sternenhintergrund überhaupt nicht drehen; dann dauerte ein Tag exakt ein Jahr, denn auf ihrem Umlauf um die Sonne würde allmählich über die Dauer des Umlaufs die Erdoberfläche einmal überall beschienen. Dieser "Tag" ist sozusagen ein Extratag, den die Erde bei ihrem Umlauf dazugeschenkt bekommt. Das bedeutet aber für eine rotierende Erde, daß die Sonne jeden Tag ein 1/365 Tag vorauszueilen scheint. Um also denselben Sonnenstand wieder zu erreichen, muß die Erde sich ein kleines Stückchen weiterdrehen, als bis zum selben Sternenstand. Dieses Stückchen macht fast ein Grad aus (und dauert ein paar Minuten zu überwinden). Die Differenz ist aber nicht zu allen Jahreszeiten gleich, denn aufgrund der leicht exzentrischen Bahn der Erde um die Sonne befindet sich der Planet mal nächer an seinem Zentralgestirn, mal weiter weg. Derzeit (die Punkte größter bzw. kleinster Entfernung wandern über längere Zeiträume betrachtet) ist das Perihel (der Punkt größter Nähe zur Sonne) im Winter. Das zweite Keplersche Gesetz besagt, daß der sogenannte Fahrstrahl, das Ellipsensegment, das aus dem in einer gegebenen Zeit durchwanderten Bogen und den beiden Achsen zur Sonne gebildet wird, zu gleichen Zeiträumen gleichen Flächeninhalt hat. Daraus wiederum folgt, daß sich die Erde zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich schnell bewegt. Die größte Geschwindigkeit hat sie am Perihel, die geringste am Aphel. Das bedeutet aber auch, daß die aufzuholende Differenz zwischen siderischem und Sonnentag im Winter besonders groß ist. Nimmt nun die Tageslänge aufgrund der Achsenneigung nach dem 21. Dezember wieder zu, profitiert davon der Sonnenuntergang besonders, denn um den "Verlust", der durch die -- schnellere -- Umlaufbewegung zustande kommt, wieder aufzuholen, muß sich die Erde besonders lange weiterdrehen -- was nichts anderes bedeutet, als daß der Sonnenuntergang noch etwas auf sich warten läßt. Morgens ist es dann umgekehrt, und der Gewinn durch die veränderte Achsenstellung wird durch denselben Effekt "wiederaufgefressen": Es bleibt also noch ein Weilchen länger dunkel, ehe die Erde die Extrastrecke von einem Grad aufgeholt hat, der Fortschritt macht sich noch länger nicht bemerkbar als am Abend.





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