Mehr Lucan (und Ende von Buch VI)

Erichtho ruft also die Seele des gefallenen Soldaten in den Körper zurück. Das klappt nicht auf Anhieb, die Seele wehrt sich, sie hat Angst, in den verwundeten Leib zurückzukehren und nicht sterben zu können. Verständlich. Aber es hilft nichts, die Hexe greift zu starken Verfluchungen, und langsam kommt, na ja, nicht Leben, aber zumindest Bewegung in den Leichnam (VI 750--762):

protinus astrictus caluit cruor atraque fouit
uolnera et in uenas extremaque membra cucurrit.
percussae gelido trepidant sub pectore fibrae,
et noua desuetis subrepens uita medullis
miscetur morti. tunc omnis palpitat artus,
tenduntur nerui; nec se tellure cadauer
paulatim per membra leuat, terraque repulsum est
erectumque semel. distento lumina rictu
nudantur. nondum facies uiuentis in illo,
iam morientis erat: remanet pallorque rigorque,
et stupet inlatus mundo. set murmure nullo
ora astricta sonant: uox illi linguaque tantum
responsura datur. ...

"Sogleich wird das gestockte Blut warm, wärmt auch die schwarzen Wunden, beginnt durch die Adern zu laufen und erreicht die äußeren Gliedmaßen. Unter dem eiskalten Herzen zucken die durchbohrten Eingeweide, ins Mark kriecht verlerntes Leben zurück und mischt sich in den Tod. Jedes Gelenk bebt, die Muskeln spannen sich; aber der Leichnam hebt sich nicht allmählich mit seinen Gliedern vom Boden, sondern steht, wie von der Erde abgestoßen, mit einem Satz aufrecht. Weit reißt er die Augen auf. Noch ist sein Antlitz nicht das eines Lebenden sondern eines Sterbenden: es bleiben ihm die Blässe und die Starre. Daß er der Welt zurückgegeben worden ist, erschreckt ihn. Doch kommt kein Laut über die steifen Lippen, denn Stimme und Sprache sind ihm nur zum Antwortgeben verliehen."

Der Rest von Buch VI besteht aus den Weissagungen der zurückgeholten Seele. Nebenbei erfährt man ein wenig über die Geographie der Unterwelt. Da gibt es zwei Bereiche, die Gefilde der Rechtschaffenen, der Römer von tadelloser Moral, deren Seelen in ewigem Glück leben, und, na ja, auf der anderen Seite das Ghetto der Schurken. Da es in der Welt der Lebenden derzeit eher schurkisch als moralisch integer zugeht, beklagen die Rechtschaffenen Decier, Curier, Camillus, Sulla (ausgerechnet der!), Scipio, Cato das Schicksal der vom Bürgerkrieg zerrütteten Welt, als einziger unter den Seligen freut sich ein gewisser Brutus, vermutlich deshalb, weil sein ferner Nachfahre in dessen moralisch-historische Fußstapfen treten und seinerseits (et tu, Brute!) einen Tyrannen beseitigen wird, wenn auch auf lange Sicht nicht erfolgreich. Auf der anderen Seite, im Ghetto der Schurken, frohlocken Catilina, die Marier, Cetheger, Druser, die Gracchen (ausgerechnet die!) und andere über die Verhältnisse draußen (aeternis chalybis nodis et carcere Ditis / constrictae plausere manus "Die von der ewigwährenden Stahlfessel und vom Kerker des Dis gebundenen Hände applaudieren"). Düster ist, was der Tote zu verkünden hat, und der Trost für den Fragesteller ein bitterer. Der Herr der Unterwelt bereite schon die Folterinstrumente für "den Sieger" vor, während für Pompeius und seine Familie bereits ein Luxuszimmer in den Gefilden der Seligen reserviert sei. Bedeutet: Caesar wird bei Pharsalos siegen. Aber mach dir nichts draus, Sextus. Ist doch viel schöner, später in der Unterwelt die Gefilde der Seligen bewohnen und Umgang mit Sulla fplegen zu dürfen. Nicht wahr.

Der weitere Rat ist bescheiden. Über Sextus' eigenes Schicksal darf der Tote nichts sagen; Sextus selbst werde es zu gegebener Zeit von den Parzen erfahren. Dort, wo sie, Sextus und sein Vater Gnaeus sich aufhalten, Thessalien, sei bereits der sicherste Ort auf Erden, den sie jemals haben werden. So endet Buch VI:

... sic postquam fata peregit,
stat uoltu maestus tacito mortemque reposcit.
carminibus magicis opus est herbisque, cadauer
ut cadat, et nequeunt animam sibi reddere fata
consumpto iam iure semel. tunc robore multo
extruit illa rogum; uenit defunctus ad ignes.
accensa iuuenem positum strue liquit Erictho
tandem passa mori, Sextoque ad castra parentis
it comes; et caelo lucis ducente colorem,
dum ferrent tutos intra tentoria gressus,
iussa tenere diem densas nox praestitit umbras.

"Nachdem er so das Schicksal verkündet hatte, steht er mit schweigender Miene da und fordert den Tod zurück. Es braucht Zaubersprüche und wirksame Kräuter, damit der Leichnam umfällt, und das Schicksal verbietet es der Seele, einmal gerufen, ein zweites Mal zurückzukehren. Dann schichtet [die Hexe] aus viel Holz einen Scheiterhaufen auf, und der Tote kommt ins Feuer. Nachdem Erichtho den Haufen angezündet hat, läßt sie den jungen Mann, den sie endlich sterben läßt, zurück und begleitet Sextus zum Lager seines Vaters; und während sie beim Aufziehen der Morgenfarbe mit sicheren Schritten zwischen die Zelte treten, zeigt die Nacht, der befohlen war, den Tag zu verhalten, noch ihre dichten Schatten."

Das VI. Buch enthält zwei Großteile. Teil eins behandelt die Ereignisse in Dyrrhachium samt der Aristie des Scaeva. In Teil zwei geht es um die Hexe Erichtho und ihre bzw. des von ihr zurückgeholten toten Soldaten Weissagung.

Noch was zur Sternparallaxe

Das Weltraumteleskop Gaia und ein paar sehr exakte Vermessungen. In der selben Episode geht es um die Entwicklung unserer Milchstraße, wie man sie beobachten und photographieren kann, und um Gravitationslinsen und schwarze Löcher.