Mehr Lucan (Anfang Buch VII)

Segnior, quam lex aeterna vocabat. Ein schlechtes Zeichen: Die Sonne sträubt sich, über dem Ort des Geschehens (des vergangenen wie des zukünftigen) aufzugehen. Oder sind es noch die Nachwirkungen des Zauberbanns der Hexe? Lux rapta, das geraubte Licht, klingt noch nach dem zurückgehaltenen Tag im Ausklang des VI. Buchs. Doch es hat den Anschein, die Sonne habe auch selbst die Absicht, es über Thessalien nicht allzu hell werden zu lassen, wenn es nämlich heißt: ne Thessalico purus luceret in orbe "damit er (Phoebus oder Titan, die Sonne) nicht rein [von Wolken ungetrübt] über dem thessalischen Erdkreis leuchte."

An diesem Morgen, dem letzten des "glücklichen Abschnitts seines Lebens", hat Pompeius einen Traum. Darin sieht er sich selbst in Rom im Theater sitzen und die Zuschauermenge ihm applaudieren und zujubeln. Sei es, kommentiert die Erzählstimme, daß sein Geist am Ende der guten Zeiten, beunruhigt von den Sorgen um das Bevorstehende, ihm noch einmal vergangene Momente des Glücks und Triumphs vorspielt; sei es, daß die momentane Ruhe ihm auf dem Umweg über das Gegenteil dessen, was eintreten wird, den künftigen Jammer prophezeit; oder sei es, daß das Schicksal ihm ("dir", die Erzählstimme schwenkt hier in eine Apostrophe um) noch einmal im Traumgesicht das in der Wirklichkeit für immer versagte Rom schenkt.

Natürlich "weiß" die Erzählstimme schon, wie die Geschichte ausgeht; aber zum einen haben wir es hier mit einem Epos zu tun, und auch wenn dieses keinen mythologischen Stoff behandelt, so zum andern doch einen Stoff, der den Lesern oder Zuhörern bekannt ist. Schließlich geht es beim Epos um das Wie des Erzählens, nicht um das Was. Der Epiker kann vielleicht Handlungsmotive variieren, Charaktere umzeichnen, Handlungen neu bewerten. Keinesfalls kann er die Handlung verändern, etwa Hektor im Kampf gegen Achill siegen, die Trojaner Helena dem Menelaos zurückgeben oder Odysseus als ersten vom Kyklopen gefressen werden und einen der Gefährten Penelope am Ende ehelichen lassen. Wenn Lucan für sein Epos einen historischen Stoff wählt, erhebt er ihn sozusagen zum Mythos. Er könnte Pompeius als Erzgauner, Caesar als Lichtgestalt darstellen (macht er nicht), er könnte Caesar als ein von Zweifeln zerfressenen Schwächling darstellen, der nur mit Hilfe von Marcus Antonius erfolgreich war, oder er könnte aus Pompeius ein Großmaul und einen Angsthasen machen -- was er nicht kann: Pompeius bei Pharsalos siegen lassen. Das wäre zwar interessant für uns zu lesen, gerade auch im Hinblick auf die Frage, wie die Zeitgenossen Lucans über alternative Ausgänge der geschichtlichen Ereignisse ihrer eigenen Zeit spekulierten, und damit auch, wie sie die Möglichkeiten und Zwänge, die treibenden und hemmenden Kräfte ihres Äons beurteilten: Was sie für möglich, wahrscheinlich, unmöglich hielten. Und was sie hofften oder träumten. Nur leider haben wir so ein Werk nicht, denn die alternative history war noch nicht erfunden. Vielleicht war sie es auch, und es ist nur keins dieser Werke auf uns gekommen. Schade.

Jedenfalls: Lucan oder die Erzählstimme weiß, was kommt, und sie macht keinen Hehl daraus, daß es für Pompeius nicht gut ausgehen wird. Und da wir gerade von Alternativen gesprochen haben: Für die Erzählstimme scheint klar, daß Pompeius, wenn er jetzt die Schlacht sucht, einen Fehler macht. Daß die Katastrophe von Pharsalos also nicht unvermeidbar war. Verse wie diese machen das deutlich (VII 58f)

hoc placet, o superi, cum uobis uertere cuncta
propositum, nostris erroribus addere crimen?

"Habt ihr also, ihr Götter, da ihr nunmal den Vorsatz faßtet, kein Stein auf dem anderen zu lassen, unseren Irrtümern auch noch Verfehlungen hinzufügen wollen?"

Oder hier, als Cicero (ja genau, der) dem Pompeius wegen dessen Unentschlossenheit die Leviten liest und "seine Beredsamkeit der schwachen Sache Stärke verleiht" (VII 67):

addidit inualidae robur facundia causae.

Und hier (45--50):

uicerat astra iubar, cum mixto murmure turba
castrorum fremuit fatisque trahentibus orbem
signa petit pugnae. miseri pars maxima uolgi
non totum uisura diem tentoria circum
ipsa ducis queritur magnoque accensa tumultu
mortis uicinae properantis admouet horas.

"Die Sonne hatte die Sterne überwunden, da begann die Menge im Lager, durcheinander zu rufen und zu schimpfen und verlangt nach dem Signal zur Schlacht. Das Fatum reißt den Erdkreis mit sich; und der größte Teil des erbarmungswürdigen Fußvolks, der das Ende dieses Tages nicht erleben wird, beklagt sich rings um die Zelte, und indem sich der Eifer der Menge hochschaukelt, beschleunigt sie noch die heraneilende Stunde des unmittelbar bevorstehenden Todes."