Weiter im Lucan

Hexen

Daß es Regionen gibt, die eine besondere Affinität zum Übernatürlichen haben, ist ja bekannt. So gilt beispielsweise in Deutschland der Harz und insbesondere die Gegend um den Brocken als Wohnort und Wirkungsbereich von Hexen. In ähnlicher Weise ist für die römische Literatur das Land der Hexen Thessalien. Bei dieser Festlegung der Region auf die schwarze Kunst hat vielleicht die Figur der Medea eine Rolle gespielt, die ja, Jason, dem Vliesräuber, aus ihrer Heimat Kolchis am schwarzen Meer folgend, nach Thessalien übergesiedelt war, nachdem sie sich, hatte sie doch Jason durch Verrat an ihren Landsleuten geholfen, sich in der Heimat nicht mehr blicken lassen durfte. Jedenfalls ist die Verbindung von Thessalien mit Hexen so eng, daß das Wort thessala "Thessalierin" als Wort für "Hexe" stehen kann. Wie heutzutage nicht anders, ist der Bereich der Magie und des Übersinnlichen in der römischen Literatur von festen Topoi bestimmt. So wie wir heute sofort an ein gewisses blutsaugendes Wesen denken, wenn wir die Begriffe "Spiegel", "Knoblauch", "Sarg" lesen, gibt es auch in der lateinischen Dichtung ein festes Inventar an Eigenschaften, die einer Hexe zukommen. Und so wie keine Vampirgeschichte ohne Fledermäuse, so gibt es keine Hexendichtung ohne die Auflistung der entsprechenden Folklore: Hexen können den Lauf der Gestirne beeinflussen und Flüsse aufwärts fließen lassen; sie können Windstille oder Sturm anordnen und es aus heiterem Himmel blitzen und Donnern lassen.

Der thessalische Schauplatz ruft also geradezu nach einer kleinen Gruseleinlage, und Lucan wäre nicht, der er ist, würde er eine Gelegenheit verstreichen lassen, seine Darstellungsvirtuosität in grausigen Dingen zur vollen Entfaltung zu bringen. Sextus, ein etwas mißratener Sprößling des Pompeius, beabsichtigt, bei thessalischen Magierinnen Auskünfte die unmittelbare Zukunft, insonderheit den Ausgang der erwarteten großen Schlacht gegen Caesar, einzuholen. Hexen statt Pythia, das ist ein bißchen wie Internet statt Tageszeitung oder Pendeln statt Magnetresonanztomographie. Bin gespannt, was das wird. Zunächst, sozusagen zur nervlichen Einstimmung, gibt es einen kleinen Exkurs in Sachen Hexologie. Der Beginnt mit einer Aufzählung der von Sextus verschmähten, gewissermaßen "offiziellen" Auskunfteien -- den griechischen Orakeln, von denen die berühmtesten, Dodona und Delphi, in Thessalien liegen, den römischen Divinationstechniken (Vogel-, Wetter-, Eingeweideschau), sowie aus römischer Sicht entlegeneren Methoden, die babylonische Astrologie etwa. Diese befragt Sextus also alle nicht. Die Aufzählung ist also ein Kontrast zu dem, was jetzt kommt, des Normalen und Erwartbaren zum Gruseligen, Zwielichtigen und auch Verbotenen. Wir haben die höheren Götter ([arcana] supernis detestanda deis, "den höheren Göttern verabscheungswürdige [Geheimnisse]", VI 430f); und wir haben die "die gräßlichen Altäre voller Opfer wilder Tiere", tristis sacris feralibus aras (432); den" Schutz des Dis und der Schatten", umbrarum Ditisque fidem. aut siquid tacitum sed fas erat hieß es bei der Aufzählung der anständigen Orakelmethoden, "oder was halt sonst zwar nicht geheim, aber erlaubt (fas) ist". Hexenwerk ist nicht fas, sondern nefas, womit der Römer alles bezeichnet, was regelwidrig und schädlich ist. Nefas, das ist begrifflich so eine Art haram der römischen Welt.