Die Verse VI 299--313 zeigen eine Besonderheit der lateinischen Modalität, daß nämlich eine einzige modale Form dem Ausdruck der Modalität genügt. So muß ein Modalverb wie posse (aber auch etwa oportet, licet oder ein prädikatives Gerundivum) zum Ausdruck der Kontrafaktizität nicht zusätzlich noch im Konjunktiv stehen ((zumindest gilt das für die Vergangenheitsformen). Im vorliegenden Abschnitt rahmen zwei Instanzen von posse eine Folge von Konjunktivformen: fores, vicisset, flesset, gestasset, pressisset, placasset, caruisset: "wärst gewesen, hätte gesiegt, hätte beweint, hätte getragen, hätte gedrückt, hätte besänftigt, hätte entbehrt" Eingeleitet wird diese Aufzählung von Geschehnissen, die aufgrund einer unerfüllten Bedingung alle nicht passiert sind, durch die Form potuit, das Perfekt von posse: totus mitti ciuilibus armis / usque uel in pacem potuit cruor: ipse furentis / dux tenuit gladios. "Das ganze Blut hätte durch die Klingen des Bürgerkrieges sogar für den Frieden vergossen werden können; doch der Anführer selbst hielt die rasenden Schwerter zurück." ("Du, Rom, wärst glücklich und frei von Königsherrschaft gewesen etc.", geht es dann weiter, im Konjunktiv) Gemeint ist, daß Pompeius das Kriegsglück nicht genutzt und die Gelegenheit zum Sieg hat verstreichen lassen. Ich habe hier übersetzt mit "hätte können", die Form aber ist Indikativ, "konnte". Für das Lateinische ist das bereits reine Möglichkeit, wenn nicht sogar Irrealität: Aus dem Können folgt kein Sein. Insofern reicht dem Dichter hier die Feststellung dieses Könnens, als Feststellung einer unverwirklichten Möglichkeit: Pompeius konnte damals ja tatsächlich siegen, hat es aber nicht getan. Man neigt im Deutschen hier dazu, die unverwirklichte Möglichkeit noch durch den Konjunktiv zu unterstreichen, obwohl das logisch betrachtet überflüssig ist. Denn das Imstandesein an sich ist ja eine Tatsache. Den Indikativ bei dynamischer Modalität im Deutschen nehmen wir eigentlich nur, wenn es um intrinsische, von Verwirklichungsinstanzen unabhängige Aussagen geht, also etwa Mit zwanzig konnte ich die hundert Meter in zehn Sekunden laufen. Oder, Bei klarem Wetter konnte man vom Feldberg den Alpenrand sehen. Gleich, ob man den Alpenrand einmal sah oder niemals, ob man überhaupt auf dem Feldberg war, man konnte den Alpenrand sehen, das Gebirge war sichtbar, es zu sehen war, unabhängig von der Verwirklichung, möglich: eine Möglichkeit de dicto, sozusagen. Anders, wenn jemand auf den Feldberg steigt (Möglichkeit de re oder facto), sich aber nach Norden wendet und keinen Blick nach Süden tut: Dann würden wir sagen, Du hättest die Alpen sehen können (oder, Du hättest sie gesehen), nicht aber, Du konntest die Alpen sehen.