Weiter im Lucan

Pompeius' Flucht (VII 647-697)

Gründe, die die Erzählstimme für Pompeius' Flucht angibt:

... nec derat robur in enses
ire duci iuguloque pati uel pectore letum.
sed timuit, strato miles ne corpore Magni
non fugeret, supraque ducem procumberet orbis;
Caesaris aut oculis uoluit subducere mortem.
nequiquam, infelix: socero spectare uolenti
praestandum est ubicumque caput. sed tu quoque, coniunx,
causa fugae uoltusque tui fatisque negatum
parte apsente mori ...

Pompeius' Flucht ist eine historische Tatsache, und Lucan kann natürlich den Lauf der Geschichte nicht ändern. Schließlich ist das Epos so etwas wie heute ein historischer Roman, darin kann man alles mögliche erfinden, weitere Protagonisten, Charakterzüge, Motivationen, Nebenschauplätze, Reden, Gespräche, Gedanken, aber natürlich nicht den Ereignisrahmen. (Das heißt, kann man schon, nur ist es dann eben kein historischer Roman mehr.) Will Lucan Pompeius positiv darstellen, muß er also dieser Flucht irgendeinen positiven Aspekt abgewinnen. Also: Es hätte ihm nicht an Stärke gefehlt, selbst den Tod zu suchen; aber er fürchtet, daß dann das ganze Restheer statt zu fliehen über seiner Leiche hingemäht wird. Oder er will seinen Tod den Augen Caesars entziehen. Aber natürlich spielt auch die Gattin eine Rolle bei der Etnscheidung zur Flucht. Und natürlich das Schicksal, das es Pompeius abschlägt, fern von seiner Frau zu sterben. Gegen den letzteren Grund ist schwerlich etwas einzuwenden. Lucan gibt sich redlich Mühe, Pompeius' Flucht nicht nur nicht als feige, sondern gar noch als verantwortliches Handeln hinzustellen. Überzeugend ist es nicht. Überzeugt sind auch nicht Beobachter innerhalb der Erzählung: Das Wort des Potheinos über Magnus (506-509):

... fugit ora senatus,
cuius Thessalicas saturat pars magna uolucres,
et metuit gentes quas uno in sanguine mixtas
deseruit, regesque timet quorum omnia mersit,

zeigt, in welchem Licht die Ereignisse den zeitgenössischen Figuren der Erzählung erscheinen. Mit dem Wort deseruit kann es jedenfalls keinen Zweifel an der moralischen Qualität der Flucht geben: Pompeius hat die verbündeten Völker "im Stich gelassen". So sorgt die Erzählstimme versteckt für die Widerlegung ihrer eigenen, ohnedies nicht eben überzeugenden, Darstellung und Bewertung. Die Frage nach Pompeius' Schuldigwerden in der Flucht bleibt offen. Und sein Tod, in den er sehenden Auges geht, obwohl er abermals fliehen könnte, erscheint in einem anderen Licht, wird zur Sühne. Diesmal, kann man sich als Leser denken, wird er nicht fliehen, noch einmal wird er dem Schicksal nicht auszuweichen versuchen (VIII 575):

sed cedit fatis classemque relinquere iussus
obsequitur, letumque iuuat praeferre timori.

"Aber er gibt seinem Schicksal nach und folgt dem Befehl, das Schiff zu verlassen. Er freut sich, dem Tod gegenüber der Furcht den Vorzug zu geben."