Dunkel jetzt, vielleicht noch vier, fünf Tage bis zur Stirnlampe.
Wenn es so etwas wie eine lebendige Vergangenheit gibt, dann sind es wohl die Strecken durch den Wald. Das Erinnern kann so selbstversunken geschehen, daß der Zeitpunkt, von dem aus ich mich erinnere, verschwindet, und die Erinnerungen ihre zeitliche Tiefenstruktur verlieren, ihr Wann aufgeben. Der Wald kennt nur Orte und wiederkehrende Wechsel. Er hat keine Erinnerungen, außer denen, die man in ihrn hineinträgt.
Mutter und Kind sprechen italienisch miteinander. Der Junge, er mag vielleicht acht Jahre alt sein, setzt sich neben mich auf die Bank, die Mutter bleibt stehen. Der Junge hält etwas auf den Knien, ich schiele hinüber, es ist ein Buch. Und nicht irgendeines, nein, es ist eine Rarität innerhalb der Seltenheit eines lesenden, smartphonelosen Kindes, es ist eine Ausgabe von Die drei ??? und die flüsternde Mumie, das habe ich schon als Kind gelesen, und was der Junge da aufschlägt, ist nichts weniger als eine Antiquität, nämlich eine Ausgabe aus meiner eigenen Kinderzeit, DTV-Junior, mit dem weißen Umschlag und dem Bild auf dem Cover. Sie müssen es aus dem öffentlichen Bücherschrank hinter dem Bahnhof gezogen haben. Der Junge liest, ich schiele hinüber, Kapitel zwei, „Eine Mumie flüstert“. Ich erinnere mich in groben Zügen an die Handlung. Besonders einprägsam ist mir die Szene in Erinnerung, wo sich Justus Jonas als Professor Yarborough verkleidet der Mumie nähert, die daraufhin zu flüstern beginnt und damit zu erkennen gibt, daß auch 3000 Jahre alte Mumien sich von einer simplen Verkleidung täuschen lassen. È bello, sagt der Junge zu seiner Mutter. Das ist Band drei. Die Mutter fragt etwas auf italienisch. Und das Gespensterschloß, antwortet das Kind, und das ist der Moment, wo ich überzeugt bin, in eine Hyperraum-Zeitschleife geraten zu sein. Aber dann fährt ein Zug der Mittelrheinbahn ein, irgendwo hinter mir jodelt ein Mobiltelephon, die Bahnhofsdurchsage murmelt etwas von Verzögerungen im Betriebsablauf und links von mir hat jemand einen weißen Stecker wie eine Spielfigur im Ohr. Kurz vorm Einsteigen halte ich noch einmal Ausschau nach dem bibliophilen Jungen und seiner Mutter, aber ich kann sie im Gewühl nirgends mehr entdecken.
Man hätte ihn, wie er da mit zwei Gefährten den Bergpfad hinunter kam, in Jägergrün gekleidet, ein Gewehr über der Schulter, mit gekreuzten Patronengürteln behängt, für eine Erscheinung halten mögen, so unwirklich, so unerwartet und wie aus einem Abenteuerbuch herausphantasiert war er mir durch die Büsche vor die Augen gekommen. Ich war ja seit Stunden keinem Menschen mehr begegnet und hatte auch, so weit oben in den Bergen und allein unter wilden Ziegen, mit keinem Menschen mehr gerechnet. Bis der Weg sich in hundert Trampelpfade und keinen auflöste, war ich gewandert, dann, es dämmerte bereits, die Jahreszeit war fortgeschritten, hatte ich halt gemacht und das Zelt aufgestellt, in einer flachen, von Gebüsch eingehegten Senke, unweit eines aus Naturstein dürftig gemauerten, verfallenen, sicher seit Jahrzehnten außer Gebrauch gekommenen Unterstands für Hirten und Vieh. Er aber war mit seinen beiden Gefährten aus der weglosen Wildnis, die ich anderntags zu durchqueren gedachte, heruntergestiefelt, als wären die drei in ihr zu Hause.
Ich saß auf einem Stein und ruhte mich von der Wanderung aus, die mich über viele Stunden von Vríses kommend auf den Berg geführt hatte. Mein Ziel war ein Ort auf der anderen Seite des Gebirgsmassivs, der auf der Karte mit Amudári bezeichnet war. Von dort wollte ich am dritten Tag einer asphaltierten Straße hinunter nach Chóra Sfakíon und zum Meer folgen. Als mir eine Stunde zuvor auf der Schotterstraße Schafhirten zugerufen hatten, wohin ich denn wolle, Pu pas, re?, hatten sie sich bei Nennung des Namens ausgeschüttet vor Lachen.
Dieser aber lachte nicht, er war ernst und nahm mich ernst, schickte seine Gefährten, die nicht halb so eine beeindruckende Figur machten wie er selbst, voraus ins Tal und setzte sich zu mir.
Er hatte kurzes, schwarzes Kraushaar, dichte Locken, dunkle Haut, ebenmäßige Züge, ein breites Kinn, eine wache Stirn. Auf Wangen und Kinn lag ein starker Bartschatten. Sein Gesicht und sein Wuchs waren von der Art, die einmal die seltene Gelegenheit boten, das Wort edel ohne jede Ironie zu gebrauchen. Die Vorfahren des vielleicht Zwanzigjährigen mochten einst, konnte man sich denken, gegen die Türken gekämpft haben, er selbst zu einer Volksgruppe gehören, deren Urahnen sich damals in den unzugänglichen Bergen gegen die Übermacht der Eroberer verschanzt hatten. Seine Augen waren dunkel, der Blick ruhig, gesammelt, ernst. Er erschien mir wie jemand, dem unbedingt und unter allen Umständen zu trauen wäre, einer, der weiß, was er tut und mit Verantwortung handelt. Er fragte mich aus, woher ich käme, wohin ich wollte. Er machte keinen Hehl daraus, daß er mein Vorhaben für zu riskant hielt. Nicht für leichtsinnig, nicht für albern, es war etwas, das einem Mann durchaus einfallen mochte zu wagen. Aber es war eben auch wert, nach gründlicher Überlegung verworfen zu werden. Ich zeigte ihm auf der Karte (im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute verstand er sich auf das Lesen von Landkarten), welchen Weg ich an diesem Tag zurückgelegt hatte. Well, I see that you are strong, sagte er in ausgezeichnetem Englisch. Ich war geschmeichelt. But, sagte er, ich rate dir, umzukehren. Wieviel Wasser hast du noch? – Ich zeigte ihm die zwei fingerhoch Wasser, die noch in der Flasche waren, das hatte mir auch schon Sorgen gemacht. Es war ein warmer Tag gewesen, der Durst groß. Er schüttelte den Kopf. Ich würde darauf angewiesen sein, Schnee zu finden. Nicht aussichtslos, aber. Und fließendes Wasser gebe es dort oben keines. Die Viehpfade seien trügerisch, die meisten führten in die Irre. Die Orientierung sei schwierig. Es gebe oft Nebel, und in den nächsten Tagen sei auch welcher zu erwarten. Im Nebel wäre es praktisch unmöglich, sich nicht zu verlaufen. You are strong, sagte er, but I suggest you go back. It’s too dangerous. Und damit, bevor ich ihn über seine eigenen Pläne und Geschäfte in dieser Bergeinsamkeit hätte befragen können, erhob er sich, schulterte sein Gewehr und machte sich seinen Gefährten nach auf den Weg ins Tal. Er hatte nicht auf mich eingeredet, ich hatte ihm nicht widersprochen. Er nahm mir kein Versprechen ab, nicht weiterzugehen. Er wartete nicht, bis er hätte sicher sein können, mich überzeugt zu haben. Er hatte mir gesagt, was er zu meinem Vorhaben zu sagen hatte. Das übrige war meine Verantwortung. Er würde sich, das war klar, über mich nicht weiter den Kopf zerbrechen. –
Am nächsten Tag, nach einer Nacht voll Durst, während immer wieder Schafe oder Ziegen am Zelt vorbeigetrabt waren und ich mit Mühe nur der Versuchung widerstanden hatte, den letzten Schluck aus der Wasserflasche zu nehmen, brach ich das Zelt ab und kehrte um ins Tal.
Und schon ist die Hitze wieder wie ein Traum. Der Sommer flutet zum Horizont davon und läßt uns die braunen Reihen abgestorbener Fichten zurück. Die Dunkelheit kümmert sich wieder um die Straßen, aber sie kann den Durst nicht lindern. An den Kreuzungen bleibe ich lange stehen. Wie bin ich hierher gekommen? Im Dunst hinter den Stämmen hebt sich ein geschwollenes Augenlid, und ich bin so müde, daß mein Blut für viele Winter reicht.
Kinder könnten auch übers Händie Eis und Süßigkeiten erstehen. Oder von Erwachsenen etwas zugesteckt bekommen, aufs Händie-Guthaben halt. Und dann hieß es noch, in Skandinavien hätten schon Obdachlose eine App auf dem Smartphone, mittels derer sie Spenden entgegenehmen könnten. Das als Entgegnung zu Einwänden gegen die Abschaffung des Bargelds. „Wenn mich ein Obdachloser anspricht, zücke ich mein Smartphone, und wenn der das nicht will, tja, tut mir leid. Ich würde ihm ja gerne helfen, aber Bargeld habe ich keines.“ „Für genau den Zweck habe ich immer einen Euro in der Tasche.“ Mit solchen Fragen war man zwischen Espresso und Rechnung beschäftigt. Man erhob sich bereits, da sagte noch jemand was von „Hört auf zu streiten, ihr lebt auf verschiedenen Planeten.“
Planeten?, denke ich. Wenn ich einen Obdachlosen an die Bezahl-App verweise, dann will ich ihm gar nicht helfen. Ginge es mir darum, würde ich, als derjenige, der ja die Wahl hat, Wege finden, dem, der am Boden ist, wenigstens eine kleine Freude zu bereiten. Ich halte ja auch dem einarmigen Verdurstenden nicht die zugeschraubte Wasserflasche hin. Ich mache sie ihm auf, was kostet mich das? Eine kleine Freude am Tag, das kann ein Obdachloser brauchen. Was er nicht brauchen kann, ist eine Belehrung über die Zukunft des Bargelds.
Man kann natürlich aus allem ein Geschlechterrolenproblem machen, wenn man es darauf anlegt. In einer Kolumne, die den Einsatz von Vibratoren kritisch sieht, ist folgendes zu lesen:
Es bleiben Werkzeuge, die wir da benutzen. Dinge, die nicht zu uns gehören, die keine Empfindung haben und nicht auf uns reagieren können. Dinge, die zwischen uns und unseren Körpern stehen. Dinge, die Männer ursprünglich erfunden haben, um Frauen maschinell Orgasmen verpassen zu können. Dabei brauchen wir Frauen nun wirklich keine Hilfe in Form von Silikon und Plastik. Was wir brauchen, ist die Freiheit, unsere Sexualität genau so schamlos leben zu dürfen wie Männer.
„Dinge die Männer ursprünglich erfunden haben.“ Herrgott. Auch der Tampon und die hormonelle Empfängnisverhütung wurden von Männern erfunden. Außerdem das Fahrrad und das Auto. Das hat ihrer Beliebtheit nicht geschadet. Wenn euch das stört, daß die Erfinder Männer waren, warum habt ihr es dann nicht selbst erfunden? Oder laßt es halt, nehmt eine Binde, benutzt Kondome (wer hat die eigentlich erfunden?), werft den Vibrator auf den Müll, wenn ihr ihn nicht mögt und euren Finger lieber habt. Aber hört doch bitte damit auf, irgendwelche politischen Erwägungen an seine Benutzung oder Nichtbenutzung zu knüpfen. Denn das nervt. Wer hat eigentlich das Papiertaschentuch erfunden? Oder den Kugelschreiber? Und sollten Frauen nicht lieber mit dem Finger schreiben und sich in die Faust schneuzen, statt schon wieder Zuflucht zu einem Hilfsmittel zu nehmen, das Männer (vermutlich Oskar Rosenfelder im Falle des Taschentuchs, László József Bíró für den modernen Kugelschreiber) erfunden haben? Wird dadurch nicht eine Abhängigkeit von Männern zementiert? Und entfremdet es Frauen nicht von ihren Körpern, wenn sie so künstliche Dinge wie Taschentücher und Kugelschreiber benutzen? Der eigene Finger in der Malfarbe, die Rotze in der Faust dagegen vermögen Tabus und Hemmungen aufzubrechen, unter denen Frauen Jahrhunderte gelitten haben, und öffnen Frauen wieder den Zugang zum eigenen Körper, seinen natürlichen Funktionen und Ausscheidungen. Man findet solche Überlegungen zu Recht lächerlich. Und doch werden sie allen Ernstes beispielsweise in bezug auf Tampons angestellt. Der Tampon blockiere den natürlichen Abfluß; er trage mit dazu bei, die Menstruation zu einem Problem zu machen; er suggeriere die Unreinheit des Menstruums und fördere so Schamgefühle bei den Frauen; er verhindere, daß Frauen ihre Regelblutung als etwas Natürliches, ihrem Körper Gemäßes erlebten. Undsoweiter. Hat das eigentlich mal jemand über Klopapier so formuliert? Oder wie wäre es damit: Das Kondom verhindert den freien Ausstoß des Samens; es suggeriert die Unreinheit des Ejakulats und löst Schamgefühle bei Männern aus; es verhindert, daß Männer ihren Samenerguß als etwas Natürliches, Schönes, ihrem Körper Gemäßes erleben. Das letzte könnte man auch vom Papiertaschentuch sagen. Reden wir, statt solchen und ähnlichen Quatsch zu phantasieren, lieber über was Schönes. Reden wir über Vibratoren. Was für Typen gibt es, worin unterscheiden sie sich, was für Vor-und Nachteile haben sie, wie sind sie zu gebrauchen, wie eher nicht, wozu taugen sie, wozu eher nicht. Es gibt sicher gute Gründe, warum Vibratoren zum Einsatz kommen. (Sonst würden sie nicht so gerne benutzt.) Es gibt sicher auch gute Gründe dagegen. (Die Geschmäcker sind eben verschieden.) Politische Überzeugungen gehören nicht dazu. Mag sein, der Vibrator zwickt oder ist zu laut oder zu kalt oder zu starr oder was weiß ich. Dann läßt man es halt bleiben und nimmt lieber den Finger oder die Quietscheente. Jedoch bleiben zu lassen, was eigentlich Spaß macht, nur weil vermeintlich emanzipatorische Gründe dagegen sprechen, scheint mir eine bescheuerte Idee zu sein. Und was ist das überhaupt für eine Emanzipation? Von einem Gerät? Du meine Güte. Und was die in der Kolumne erwähnte Freiheit zur Schamlosigkeit betrifft: Die habt ihr. Längst. Ihr müßt sie nur noch nutzen. Das ist riskant. Aber das ist Freiheit immer.
(Im übrigen möchte ich jetzt ins Freibad, drei Runden durchs Becken drehen, dann ein Eis (Schokolade und Amarena-Sahne), dann nach Hause und ins Bett, ein Stündchen oder zwei Schlaf nachholen und dann davon aufwachen, daß du neben mir liegst und dich streichelst.)
(Mit Nachwuchs)
Kaum wird ernsthaft die CO2-Steuer diskutiert, geht schon das Geschachere los. Die Steuer finden viele super, solange nur die anderen zahlen. Was, ich? Nein, ich zahle nichts! Weil ich hab es ja schwerer als die anderen. Und ich fliege ja nur einmal im Jahr. Also gut, höchstens zweimal. Und nur nach Mallorca, nie weiter weg. Das ist ja praktisch schon CO2-neutral. Aber die Wohnung, die muß ich warm haben. Weil ich friere halt schnell. Und dann werde ich krank. Oder es gibt Schimmel. Und sollen jetzt Arbeitslose nicht mehr heizen dürfen? Die werden sich keine Heizkosten leisten können. Geht immer auf die kleinen Leute, die mit zwei Autos auskommen müssen. Wie soll ich denn zur Arbeit kommen, wenn ich den Sprit nicht mehr zahlen kann? Etc etc ad nauseam.
Wenn man alle Einwände und Vorschläge zur Refinanzierung berücksichtigt, kommt man bei folgender Vorstellung heraus: Weniger Kohlendioxid, aber alles soll bitte so bleiben, wie es jetzt ist. Fliegen, Autofahren, Fernreisen; Wäschetrockner, Tiefkühlschrank und Internet; und dazu winters tropische Wärme in den eigenen vier Wänden. Die Diskussion über die CO2-Steuer ist schon jetzt, wo sie noch kaum begonnen hat, zum Davonlaufen. Ich habe allen Ernstes den Einwand gehört, daß ganze Urlaubsregionen einpacken könnten. Wovon sollen denn die Menschen auf den Kanaren leben, wenn keine Touristen mehr kommen? Worauf zu antworten wäre, daß es diesen Tourismus sowieso bald nicht mehr geben wird. Leute!, möchte man schreien, wir sind hier nicht beim Onkel Doktor. Es wird weh tun, verlaßt euch drauf.
Wen träfe eine CO2-Steuer am meisten? SUV-Fahrer, Flugreisende, Fleischesser, Menschen, die in großen Wohnungen und in freistehenden Häusern wohnen. Wen träfe die Steuer am geringsten? Diejenigen, die sich den Krempel eh nicht leisten können. Die Steuer wäre strikt verursacherbezogen, und damit äußerst gerecht. Wer viel CO2 mitproduziert, und das sind die Reichen, zahlt hohe Steuern, wer einen schlankeren Lebenswandel hat, das sind die Ärmeren, zahlt weniger. Die Not ärmerer Bevölkerungsschichten als Argument gegen die Steuer anzuführen, ist scheinheilig. Was wird besteuert? Nicht das Heizöl, sondern der CO2-Aufwand des Lebensstils. Der aber dürfte insgesamt gesehen unter den Ärmsten auch am geringsten sein, da die Mittel zur Bestreitung eines CO2-aufwendigeren Lebensstils bereits am geringsten sind. Niemand muß fliegen. Niemand muß verbrauchsintensive Autos fahren. Niemand muß Fleisch essen. Klar, die CO2-Steuer würde viele Lebensbereiche teurer machen. Und jetzt halten Sie sich fest: das ist ihr Sinn. Aber sie würde es den Steuerzahlern überlassen, wo und wieviel sie sparen, wie sie individuell auf die Steuer reagieren wollen.
Der Preisunterschied zwischen Bioprodukten und Erzeugnissen aus konventioneller Landwirtschaft würde geringer. Es gäbe einen Anreiz für die Industrie, energiesparend zu produzieren. Aufwendige Verpackungen würden verschwinden. Lokale Produktion würde gefördert, Transportwege verkürzt. Energie aus fossilen Brennstoffen würde teurer, Energie aus erneuerbaren Quellen bekäme einen Wettbewerbsvorteil. Viele Produkte, die jetzt aufgrund niedriger Energiepreise günstig zu haben sind, würden erheblich teurer. Aber der Kostendruck im Wettbewerb würde zu neuen Technologien und Vermarktungsweisen führen, die mit weniger Energie auskämen. Gegenwärtig besteht sehr wenig Anreiz, an Energie und Transport zu sparen. Das würde sich nach Einführung einer CO2-Steuer sehr schnell ändern. Auf lange Sicht würden sich auch Arbeitswege verkürzen, weil sich die Produktion lokal und dezentral umorganisieren würde. Das Wachstum der Megastädte würde abnehmen, ländliche Regionen als Arbeits- und Wirtschaftsräume aufgewertet. Vegetarische oder sogar vegane Lebensweisen wären nicht mehr nur aus ethischen oder gesundheitlichen Gründen erwägenswert – sie wären schlicht und einfach billiger. Wenn Fernreisen nicht mehr erschwinglich wären, profitierte der regionale Tourismus. Die Städte und Kommunen gerieten unter Druck, attraktive Freizeit- und Erholungsangebote zu machen. Es gäbe wieder mehr Schwimmbäder und Parkanlagen, aus der CO2-Steuer mitfinanziert. Es gäbe einen Selektionsdruck für ganze Lebensstile, Kulturen, Narrative und Techniken.
Und das alles würde sozusagen von alleine passieren – mit nur einer einzigen Maßnahme als Triebfeder. Ein kleines Gesetz würde die Entwicklung einer post-fossilen Gesellschaft einleiten. Keine andere Einzelmaßnahme, von der Wohnungsdämmung bis zum EEG, hätte ein solches Potential oder wäre so gerecht.
Und, ah!, wie mich das ärgert. Dieses Wählerische. Die ewige Zurücksetzung. Und daß wir Männer uns immer und immer die Köppe einschlagen müssen, während die Frauen dasitzen, zugucken und am Ende den lädierten Sieger in die Arme schließen dürfen – zumindest so lange, bis ein anderer Herausforderer antritt. Es ist lächerlich. Es ist unwürdig. Es ist empörend. Und daß niemand etwas dafür kann, weil es in der Natur der Sache liegt, das macht es nicht besser, das macht es nur noch viel schlimmer. Auch wenn ich aus dem Alter raus bin.
Hätte ich die zuletzt erwähnte Statistik damals, als ich noch nicht aus dem Alter raus war, schon gekannt, wäre meine Frustration zwar nicht geringer gewesen, aber ich hätte eine Erklärung gehabt, warum es auf der Datingplattform nicht voranging. Vielleicht hätte mich das mit einer Art von befriedigtem Ingrimm erfüllt. Warum ich nie angeschrieben wurde. Warum auf die meisten meiner eigenen Zuschriften nicht einmal eine Ablehnung zurückkam – als wäre schon mein Ansinnen ungebührlich. Als hätte ich nach etwas greifen wollen, das nicht für mich bestimmt war. War es auch nicht, offensichtlich. Aber als ob ihr, liebe Angeschriebene, so unglaublich der Reißer gewesen wärt. Ich habe da meinen eignen Marktwert schon mit eingerechnet, als ich euch und nicht die heiße Schwarze mit dem verruchten Blick angeschrieben habe. Gegen die kamt ihr nämlich auch nicht an. Meint ihr, bei euch gäbe es kein Mittelmaß?
Die Anzahl der Zuschriften auf Datingplattformen ist außerdem auch noch Pareto-verteilt. Jeder, der sich schon einmal gefragt hat, warum das nicht so recht zündet mit dem eigenen Blog, der eigenen Video-Seite, den Strickmustern oder Katzenbildern, hier ist das Geheimnis: Blogs und ganz allgemein Webseiten verhalten sich wie Großstädte, bewaffnete Konflikte, das Jahreseinkommen und die Wörter einer Sprache: Sehr, sehr wenige haben sehr sehr viel, der klägliche Rest verteilt sich dünn ausgestrichen auf die Masse. Sehr wenige Blogs ziehen sehr viele Follower an sich, während sehr, sehr vielen Blogs nur eine Handvoll Leser folgt; sehr wenige Städte haben mehrere Millionen Einwohner, sehr viele Städte nur ein paar tausend; große Opferzahlen findet man bei sehr wenigen Kriegen, in den meisten sterben nur wenige Menschen; nur eine handvoll Wörter führen die Häufigkeit in Texten an, während die meisten Wörter selten sind; sehr wenige Menschen sind stinkreich, aber sehr viele bettelarm. Und eben: Sehr wenige Paarungsbereite bekommen die überwiegende Mehrzahl aller Zuschriften auf einer Datingplattform. Man braucht ein ziemlich dickes Fell, wenn man sich dort tummelt. Spaß macht das nur, wenn man einer der wenigen ist, die den Löwenanteil von Zuschriften bekommen, und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß man das nicht ist.
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