Die frohe Gesellschaft, und wie ich sie fliehe und ersehne. Kein Moment länger hätte mir dort noch mehr Vergnügen bereiten können, doch kaum bin ich weg, ist der Abend voller ungenutzter Möglichkeiten. Keins der Gespräche, die ich hätte führen wollen, habe ich geführt. Dafür solche, von denen ich nicht wußte, daß ich sie führen wollte. Wie immer ist alles zuviel auf einmal. Eine Runde zu viert ist schon fast mehr, als meine Aufmerksamkeit verarbeiten kann. Es ist zu laut, ich muß zu laut reden, um noch Freude am Sprechen haben zu können. Ich ermüde. Die Stimme wird brüchig und verwaschen, als wäre ich Stunden im Frost gewandert. Ich komme mir übertrieben vor, zu laut, zu hektisch lachend, ich bin angestrengt, ich arbeite, während ich rede und die anderen sich amüsieren. Ich beobachte mich selbst, schweife ab, höre nicht mehr zu. Der Raum dröhnt, Stimmen dringen von überall an mein Ohr, ein Kind schreit, gegenüber lacht jemand, mein Blick pendelt weg, unhöflich gegen den Gesprächspartner, den ich über alles schätze, nur zeigen kann ich es ihm nicht, weil ich zu beschäftigt damit bin, Herr der Situation zu bleiben, Herr meiner Sinne, zu ausgelastet damit, alles, was an Eindrücken auf mich einprasselt, zu sortieren und mit den Empfindungen, die aus mir selber stammen, abzustimmen. Es ist die einzige Gelegenheit im Jahr, bestimmte Menschen, die mir viel bedeuten, zu sehen, aber es sind zu viele auf einmal. Wie gern würde ich mich einen Nachmittag mit Anna W. unterhalten, in der Stille eines Wohnzimmers; wie gerne hätte ich endlich mehr über Jupp H. erfahren, nach all den Jahren weiß ich immer noch nicht, was für ein Mensch das eigentlich ist. Oder N., die, später eingetroffen, mir Sitzendem zur Begrüßung von hinten die Schultern drückt, als wären wir dicke Kumpels, daß mir ganz warm wird. Oder S., die mir blaß, und, obwohl sie doch so hübsch ist, häßlich erscheint, als hätte jemand ihr schönes Gesicht durch eine Karikatur ersetzt, seit wir uns das letzte Mal gesehen und ich ihre Schönheit bewundert habe; ich fürchte, es geht ihr nicht besonders, ich werde es nicht erfahren. Einen Moment, und es sind solche Betrachtungen, die mich immer wieder aus der Unterhaltung hinauskegeln, ich muß sehr unhöflich gewirkt haben, einen Moment denke ich, wie muß sich das anfühlen für einen wie A., einen Plauderer, der in jeder Runde drauflosquatscht, selbstsicher, schamlos und interessant, ohne die geringste Sorge zu haben, er könne jemanden ermüden, enttäuschen, oder jemandem dazu Veranlassung geben, sich für ihn zu schämen. A. schafft es sogar, in einer Runde die Mehrheit bildender Naturwissenschaftler das Thema zu bestimmen und von Dingen anzufangen, die alle Gelehrten mundtot machen, weil sie sich nicht darin auskennen, und er schafft es, daß man ihm dabei zuhört, ohne daß einer das Thema als unwichtig, den Gegenstand nutzlos oder die Beschäftigung damit als irrelevant bezeichnet. Einmal habe ich erlebt, wie einer dieser Wissenschaftler die chinesische Schrift als dringend abschaffungswürdig erklärte, was für ein ineffizientes, überdeterminiertes, arbiträres, schwer zu lernendes System, mein Gott. A. hätte diesen Elektrotechniker und Quantenphysiker in Grund und Boden geredet, wäre er nur anwesend gewesen. Ich konnte nur verschämt schweigen. Mein erster Gedanke dazu ist, Menschen wie A. müssen glücklich sein und stolz auf sich -- aber das kann nicht stimmen. Der zweite Gedanke ist nämlich, ich selbst, ich wäre überrascht von mir, wenn mir gelänge, was A. gelingt, ich wäre stolz über etwas, von dem ich bislang nicht geglaubt hätte, daß ich es kann. Für die Menschen aber, die es können, gehört dieses Vermögen ja seit je zum selbstverständlichen Hintergrund, zu den unbezweifelbaren Rahmenbedingungen ihres Daseins, infolgedessen sie auch nicht stolz auf sich sein können, wenn sie sich in jeder Runde wohlfühlen und drauflosquatschen, wenn sie Wirkung haben in einem sozialen Gefüge, wo einer wie ich nur verstummen kann, denn es muß dies etwas sein, das sie vermutlich noch gar nicht bemerkt, noch nicht an sich selbst begriffen haben.
Hürxberg. In der Abenddämmerung, die schon um halb vier spürbar einsetzt, drehe ich eine Runde. Wasserbehälter, Blick zurück zur Ebene, den Weg vom Bach herauf kommen zwei Hunde. Die Wege tuscheln in meinem Rücken. Ein Falke über dem Weinberg, fesgefroren an den Wolken, zappelt und kommt nicht los. Am Bach nach kurzem Zögern (große Runde hoch in den Wald, oder lieber wieder zurück?) links runter. Verschlammter Weg, Hufspuren von Pferden, weiches Wintergras. Unter dem fransigen Rand eines Wolkenbands quellen wie aus einem zu straffen Saum hellere, dickliche Schichten klarerer Luft hervor. Draußen in der Ebene rauchen die Schornsteine. Die Ebene ist erfüllt von Brausen und Donnern. Nichts an Lichtern und Strukturen bewegt sich, nichts zeigt sich als Quelle für den Lärm, es ist, als käme das Donnern aus dem Innern der Erde, als arbeiteten da gewaltige unterirdische Maschinen im Dauerbetrieb. Die Wege, die es hier herauf geschafft haben, scheinen mit Mühe entkommen zu sein. Ein Pferd schaut mich plötzlich von oben an, regungslos, weder neugierig noch ängstlich noch erstaunt, vielleicht prüft es mich, vielleicht wartet es darauf, daß ich eine Dummheit mache, damit es sich später, wenn ich weg bin, ausschütten kann vor Lachen. Etwas zischt durch die Luft wie ein Lenkdrachen: Es ist ein Schwarm Stare, der über meinem Kopf die Richtung wechselt, abdreht, in einen Baumwipfel rauscht und darin verschwindet wie in Löschpapier getaucht. Im Blick zurück plötzlich drei Schafe auf einer Weide. Sie bemerken mich nicht, was mich mit einem seltsamen Glück erfüllt. Oberhalb der Böschung halb verdeckte Bienenkörbe, ein Schuppen, nicht größer als eine Hundehütte, Brombeergestrüpp, Haselstämme, ein bleicher Himmel voller Heimaten, die meine nicht mehr sind. Hier sind Leute zu Hause, und einst war ich einer von ihnen. Der Himmel ist immer noch da, leise schaufelt er Laub über den Rand, das die Böschung hinunterraschelt bis auf den trüben Weg, bis vor meine Füße.
Decken im Frühlicht, Gedächtnis von Schnee, Gedächtnis von Speichel. Schlafend fand Helle zu Haut, Haut zum Geküßtsein zurück.
(Die Melancholie einer jeden Zäsur. Nie habe ich gelernt, Zäsuren selbst zu setzen, ohne hinterher zu bereuen, daß ich sie gesetzt habe, und mit den Zäsuren, die das Jahr und seine Teile und Feste setzt, kann ich nicht anders als rückwärtsgewandt umgehen: Niemals schaue ich bei einer Zäsur anders als mit Ängstlichkeit nach vorne, und zurück nie anders als mit Traurigkeit.)
Hände wie Stuhllehnen, Haare aus Bast, Haltung einer Vogelscheuche, einer Vogelscheuche gleicht sogar der Gang, sein schwankendes (Geh ich runter, komm ich rauf?) Stehen, als hätte diese Gestalt an der Treppe auf dem Bahnsteig, einen Moment zuvor noch auf dem zugigen Feld ein mit Stroh gefülltes Gestell aus Hölzern und Lappen, eben erst gelernt, auf Menschenfüßen zu gehen. Ein Gesicht wie Schlamm, weich, zerlaufend, mit einem triefend dunklen Mund und verschmierten Kieselaugen. Er riecht nach alten Klamotten und Rauch. Seine Sprache ist noch ungelenk, die Konsonanten voller Splitter, die feuchten Vokale vom Wind, der durch Ritzen von Schuppen und Scheune fährt, abgeschliffen. Zugeflogen die Wörter, deren Verknüpfung keinen Sinn ergibt, als läse jemand Ausdrücke und Phrasen aus einem durchgemischten Satz Kühlschrankpoesie vor. Mit jedem Satz winkt er ab, als wäre sowieso alles hin, Kant, kategorischer Imperativ, alles umsonst, Freud, das Unbewußte, Hegel, hab ich auch schon gemacht, Heidegger, mehr Namen und Schlagwörter quellen aus dem Mund, begleitet von Speichelspritzern, als würden in seinem Innern Strohballen ausgewrungen. Zwischen den Wurzelfingern qualmt bei seinem Abwinken die Zigarre wie ein Weihrauchgefäß, als wolle er mich, sein auserkorenes Publikum, damit segnen.
Nun ist die Apotheke unterm Uni-Center in der Luxemburger Straße schon fünf, sechs Jahre aufgegeben. Das Schild hängt noch über der Schaufensterfront, eine Liste mit Notfallapotheken ist immer noch neben der Türklingel angebracht, und hinter dem Glas hat sich noch mehrere Jahre lang eine immer mehr ausbleichende Werbung für ein Schnupfenmittel gekrümmt. Irgendwann muß sich jemand, der Eigentümer der Gewerbefläche vielleicht, erbarmt und die Fenster mit Packpapier verhängt haben, auch das ist jetzt schon ein paar Jahre her.
Heute stand ich an der Haltestelle gegenüber und ließ den Blick über die Ladenzeile gleiten, mit jener Langeweile und Trägheit, wie sie einen in Wartezeiten überkommt, die nicht besser zu überbrücken sind als mit interesselosem Schauen. Da gibt es eine Fitneßbude, einen Schnellimbiß mit Libanesischen Spezialitäten, einen Schreibwarenladen mit Postagentur, eine Bäckerei und eben jenen leerstehende Ladenraum, in dem früher die Apotheke war. Wie viele Apotheken, so zeigt auch diese ihre hilfreiche Existenz durch ein rechtwinklig an die Hauswand angebrachtes Zeichen, ein aus Leuchtstoffröhren geformtes Fraktur-A an. Jetzt sah ich, daß das Fraktur-A erleuchtet war. Und nicht nur leuchtete das A, es blinkte auch. Jetzt erlosch es, während an seinem rechten Fuß ein grünes Kreuz aufleuchtete. Dann erlosch dieses, während das A wieder aufblinkte. Und so ging es beharrlich weiter. Und ich fragte mich, ob ich das bislang übersehen habe, oder ob es das erste Anzeichen einer Neueröffnung der Apotheke sei. Aber welcher zukünftige Apotheker setzt als erstes so ein Blinklicht instand, ohne wenigstens die baldige Neueröffnung im Fenster anzuzeigen. Das Fenster war so packpapierblind wie all die vergangenen Jahre auch schon. Oder hatte ich das Leucht-A bislang übersehen? Blinkte es jetzt vielleicht schon sechs Jahre oder länger vor sich hin, beharrlich, tapfer und unermüdlich, starrsinnig oder seinem alten Besitzer sklavisch die Treue haltend, wie ein Hund, der es nicht aufgibt, alle halbe Stunde zur Tür zu laufen und nach seinem Herrchen zu jaulen? Beseelt von einer aberwitzigen Hoffnung auf bessere Zeiten? Daß jemand jahrelang einen elektrischen Mechanismus an einer aufgegebenen Apotheke gewartet haben soll, erscheint völlig absurd. Warum sollte man eine Leuchtreklame, die für nichts mehr wirbt, am Leuchten halten? Wenn es aber ein Versehen war, das Ding vergessen wurde und dann unbemerkt und ohne kaputt zu gehen jahrelang vor sich hin geblinkt hat, dann ist zumindest die Frage, wer all die Jahre die Stromrechnung bezahlt hat.
In der Behörde, der ich meine Arbeitskraft zur Verfügung stelle, werden turnusmäßig alle zwei Jahre sämtliche Leuchtstoffröhren einmal ausgetauscht. Die Überlegung dabei ist, daß es weniger Verwaltungsaufwand bedeutet, die Röhren alle auf einmal auszutauschen, als darauf zu warten, daß sie nach und nach kaputt gehen. Man bestellt lieber ein paar hundert Röhren und klappert alle Gebäude in einem einzigen Arbeitsgang ab, als für jede kaputte Röhre eigens Ersatz zu bestellen und den Schaden Röhre für kaputte Röhre zu beheben. Schließlich muß für jeden Ausfall und jede Reparatur ein Verwaltungsvorgang mit eigener Dokumentation angeworfen werden, und bis die neue Röhre endlich eingetroffen und die alte ausgetauscht ist, sitzt man im Dunkeln (oder im Flackerlicht). Dabei rechnet man damit, daß die allermeisten Röhren mindestens zwei Jahre halten; indem man die Zeit so wählt, daß man garantiert nur gesunde Röhren austauscht, stellt man sicher, daß keine Röhre schon vor dem Generaltausch ausfällt, was ja den Vorteil der Maßnahme wieder zurücknehmen würde. Auf der anderen Seite läßt man sie gerade lange genug brennen, daß der turnusmäßige Austausch nicht teurer kommt als der stückweise Austausch nach Ausfall. Diesen Zeitpunkt zu bestimmen ist ein Fall für Versicherungsmathematiker. Jedenfalls dürfte der Zeitpunkt des statistisch erwartbaren Ausfalls einer Röhre deshalb irgendwo knapp über zwei Jahren liegen.
Umso unglaublicher wäre es, wenn besagtes Fraktur-A jetzt schon mehr als sechs Jahre tadellos blinken würde. Ich schätze die Frequenz des Blinkens für jeweils den Buchstaben und das grüne Kreuz auf zwei Sekunden. Dann hätte sowohl das A als auch das Kreuz in sechs Jahren (6 x 365 x 24 x 60 x 60) / 2 = 94608000 Mal geblinkt. Ein verrückter Gedanke: Daß es zu jeder meiner Lebenssekunden dieser sechs Jahre (und länger), genau einen Blinkzustand des Buchstabens und des Kreuzes gegeben hat. Ich saß auf der Toilette: An, aus, an. Ich drehte eine von hunderten Runden durch den Wald: An, aus, an. Ich war an der Nordsee, an, ich fuhr zur Arbeit, aus, ich schlief, an, aus, ich seufzte nach einem anstrengenden Tag, aus, an, aus, ich ärgerte mich über einen Schüler oder freute mich über eine reizende Lektüre, trank einen Kaffee, bohrte in der Nase, stand unter der Dusche: An, aus, an, aus, an, aus. Während ich dies schreibe: An, aus, an, aus. Und neben diesem einen Blinklicht gibt es ja tausende, wenn nicht Millionen ähnlicher Blinklichter auf diesem Globus, an Baustellen, an Krankenwagen, an Weihnachtsbäumen und als Winterfensterschmuck, auf Hochhäusern und auf Leuchtreklamen aller Art, an Flughäfen und Flugzeugen, an Windkraftanlagen und Fernmeldetürmen, an Masten, an Schiffen, an Computernetzteilen und Müllwagen, alle in minimal anderen Rhythmen, einige vielleicht nur um Nanosekunden verschoben, so daß man erst in Jahrtausenden merken würde, daß sie nicht synchron sind. Stellte man sie alle nebeneinander, es gäbe ein kolossales Geflacker.
Die Traurigkeit eines Morgens, den man zu früh beginnt. Die gewaschenen Kleider auf der Leine, ein Pullover, der die Arme hängen läßt wie ein erschöpfter Sportler. Licht füllt gerade mal die eigenen vier Wände, zu mehr wäre es nicht in der Lage. Das Licht erinnert sich an Morgen von früher, als noch nichts so war wie jetzt. Als es noch die Katastrophen vom Leib halten konnte. Als es noch nichts bedeutete, traurig zu sein. Der Kühlschrank summt wie an einem Krankenbett ein Gerät, das unaussprechliche Arbeiten verrichtet. Dazu orakelt das Radio Undeutbares, aus dem Mikrophon strömt ein Wispern und Rascheln, das auch von Schilf stammen könnte, von Herbstlaub, von braunen Hecken.
Cum bene quaesieris quid agam, magis utile nil est artibus his quae nil utilitatis habent.
Wo du mich rechtens fragst, was ich tue: nichts Brauchbarers hab ich als gerade die Kunst, die ich gebrauchen nicht kann.
(Ovid, P. I,5,53-54)
Laufen, auf der Innenseite eines Schädels, auf der Suche nach den Augenöffnungen. Irgendwo denkt es in der Nacht, geht ein Wehen von Staub und Laub, kauert ein Frösteln von Mondschein. Die Ereignisse, unerkannt in ihrer Art, sind fern, gedämpft, rumpelnd; irgendwo grollt es am Gewölbe, als würden in oberen Geschossen Kopiergeräte hin- und hergeschoben; Lichter, nachdem sie sich eine Stunde lang genähert haben, verschwinden lautlos, ortlos. Wohin der Lampenschein auch fällt, ist Rand. Dahinter tun sich vielleicht Abgründe auf, wo die unteren Gedächtnisse der Nacht liegen.
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