Im Radio (Kulturnachrichten) den dämlichen Satz gehört: "Kinder sind die Museumsbesucher von morgen. Davon sind die Museumsleitungen in NRW überzeugt."
Nun, abgesehen davon, daß die Wahrheit dieser Aussage eine Frage der Logik, nicht aber der Überzeugungen ist, sind Kinder auch die Terroristen, Sexualstraftäter, Juwelendiebe, Drogenabhängigen, Alzheimerpatienten und Pflegefälle von morgen.
Beim Wort Beaujolais an Wollpullover, Decken und Winterabende denken; an erste Küsse und an einen feuchten Schoß denken, klebriger Samen auf einem warmen Bauch, tief eingewickelt in der Mitte der trockenen Wärme von Wolle, Stallgeruch des Geschlechtlichen. Beaujolais: junger Wein, der zu den jungen Erfahrungen paßte. Keine Reife, aber schon Kennertum bei mir wie bei ihr, und wie wir uns in den elementaren Fragen des Geschmacks von Delikatessen einig waren. Spaziergänge mit Kastanienlaub in den Alleen einer für beide fremden Stadt, in der man heimisch werden wollte, so wie eins verlangend im anderen zu Hause zu sein begehrte. Dazu der trockene, leicht irden schmeckende Wein, dessen Geschmack Jahrzehnte später, in einer völlig anderen Welt, nicht mehr auffindbar ist: Was bleibt, ist nur der Name der Rebsorte, der Name der Frau, die Erinnerung nicht nur an ihren, sondern an so viele Schöße, so viele Aromen, die alle dem ersten nicht mehr nahekamen. Eingekapselt wie Fruchtschalen innerhalb von Fruchtschalen, wie das warme, herbe, sanft Bittere von Kastanien. Ein stacheliger Herbst mit dem weichen Samt des Nebels und der Wärme der Fenster, in denen sich Kerzenschein spiegelt, und, vom Bett aus, dessen Enge gerade recht ist für zwei, nicht zu sehen, zwei nackte Leiber, die ihre Nacktheit voreinander bereits vergessen haben. Bibliothelen und Erkenntnisse, Buch- wie Körperweisheiten, und alle Wege voller Zukunft, unausschöpflich und geheimnisvoll. Lockend vor Fremdheit.
Ille ego sum lignum qui non admittar in ullum; ille ego sum frustra qui lapis esse uelim.
Einen wie mich aber will nicht aufnehmen irgendein Baumstamm, einer wie ich umsonst wünscht sich zu werden zu Stein.
In Dottendorf am Quirinusplatz vorbeigegangen. Ich weiß nicht, was mich bewegt, diese Gegend noch einmal aufzusuchen, der Platz mit der Straßenbahnendschleife, der Kirche (an deren Bau, so unübersehbar er doch ist, ich mich nicht mehr erinnere), der Bäckerei, irgendwo muß der Weg nach Friesdorf weitergehen, das kommt mir vor wie ein Ort des Leidens, der Niederlage, des Scheiterns. Die Häuser erzählen mir die enttäuschten Erwartungen an mich selbst wieder, die Straßenführung ist Schauplatz meiner Einsicht in den kolossalen Irrtum über meine Begabungen und Möglichkeiten. Ein Unglücksort, das war er damals nicht, so begegnet er mir jetzt. Aber geht es mir denn besser heute, und was ist das für ein Ort, an dem ich jetzt lebe? Ein Ort kann uns erst etwas über die Zeit, die wir an ihm verlebt haben, zurückspiegeln und verraten, wer wir damals waren, wenn wir ihn lange verlassen und seitdem nicht wieder aufgesucht haben. Wenn wir uns an einen Kirchenbau nicht mehr erinnern oder an einen Pfad hinauf zum Venusbergklinikum. Damals fing ich an, die Rabengeschichte zu bearbeiten, und bis jetzt beschäftige ich mich mit diesem irrwitzigen, stolzen, eingebildeten, hoffnungslosen Projekt und seinen Folgeprojekten. Es ist nicht zu fassen. Und was für kolossal verstiegene Vorstellungen, was für ein aufgeblähtes, eingebildetes Selbstbewußtsein ich damals besaß. Ich kann nicht einmal altersweise darüber lächeln. Ich könnte es, hätte sich mit harter Arbeit der Erfolg doch noch eingestellt; wäre ich zwar von der Wirklichkeit korrigiert worden, wie ein Zennovize lächelnd vom Meister korrigiert wird, dann aber infolge dieser Korrektur doch noch zum Erfolg gekommen, ja, dann könnte ich jetzt milde urteilen über mein damaliges Selbst. Aber ich habe meine Grenzen ja nie akzeptiert. Deshalb kann ich auch keine Lehre daraus ziehen. Deswegen bleibe ich Zennovize, mache keine Fortschritte, trete aus dem Kloster aus. Im Unterschied zu meiner Zeit in der Annaberger Straße kenne ich zwar meine Grenzen inzwischen. Aber akzeptiert habe ich diese Grenzen nie. Und also dieses ganze beschränkte Ich nicht, mit dem mich die Natur ausgestattet hat. Es ist mir nicht genug, ich bin mir nicht genug. Mit dem, was ich habe, weiß ich nichts anzufangen. So sind diese heute aufgesuchten Straßen Orte einer bitteren Einsicht. Umso bitterer war diese Einsicht, als sie auf meine vermeintliche Entdeckung des Schreibens folgte, auf den Höhenflug des Größenwahnsinns, zu dem mich mein Jahr in der Stadt am Ende des Jahrtausends verführt hatte. Und wie ich damals darum gerungen habe, doch noch wer zu sein. Vom größten Stein über immer kleinere Steine, die man alle nicht heben kann; bis man endlich einen Kiesel in der Hand hält und sich für Supermann hält.
(Die Jahreszeit der Spendenaufrufe hat begonnen.)
[... ]Wir aber, die wir am Fadenende vor unseren Schirmen hocken, sind die Fruchtkörper, mit denen das Mycel hinauslauscht in die äußere Welt. [...]
Gegenüber in der Küche im ersten Stock ist schon Licht. Eine Frau ist dort beschäftigt mit Aufräumen oder Frühstückmachen oder was für Aufgaben am Morgen sonst so warten, erledigt zu werden. Sie wendet sich hierhin und dorthin, stellt etwas weg, hat vielleicht ein Geschirrtuch in der Hand. Am offenen Fenster warte ich darauf, daß sich mein Zimmer mit Frischluft füllt, keineswegs habe ich die Absicht, diese Frau zu beobachten, irgendwen zu beobachten, da sehe ich in meiner Absichtslosigkeit: die Frau trägt nichts weiter als einen Büstenhalter, der Verschluß hell und wie ein Stück Rüstung auf ihrem breiten Rücken schimmernd. Nicht einmal eine Sekunde dauert es, dann schließe ich, eher erschrocken als entzückt, das Fenster.
Es ist eine Sekunde, die mehr Vorstellung enthält als tatsächliche Sichtbarkeit. Zum Beispiel wird mir die Bewegung, mit der die Frau sich von einer Seite der Küche zur anderen wendet, vielleicht von der Arbeitsfläche zur Spüle, wie ein Tanzschritt vorkommen, als hörte sie Musik (so leise, so beschränkt auf ihren privaten Umkreis, daß ich unten gegenüber nichts davon höre) und wiegte sich dazu, kaum ein Tanz zu nennen, im Takt, fröhlich darüber, daß der Tag losgeht, daß sie am Leben ist, daß ein Vergnügen irgendwann heute auf sie wartet, von dem ich keine Ahnung habe. Ebenso mehr gedacht als gesehen sind die Metallhaken der Schließe, die den Büstenhalter am Rücken zusammenspannt. Habe ich wirklich gesehen, wie sich die obere Lasche ein bißchen auswärts krümmte? Wie das dehnbare Synthetikmaterial im Licht der Küchenlampe leise schimmerte? Wie der Stoff sich weich in die Haut der Flanken jener Frau drückte? Die Frau ist jung, aber nicht sehr jung, jung auf eine reife, robuste, haltbare Art, sie trägt langes, blondes, vielleicht rötliches Haar, dessen Wellen, zusammengefaßt von Spange oder Band, über den Nacken fallen. Das habe ich nicht gesehen, das ahne ich, erfinde ich mir höchstens später. Die Erfindung tilgt auch bereitwillig den Widerspruch, daß die Haare eigentlich den Büstenhalter verdecken müßten. Was ich auch nicht gesehen habe, was aber alles in dieser Sekunde keimt, sind die anderen Bilder, die sich jenem jüngsten verbünden, der nackte Schemen hinter der Milchglasscheibe, der dampfenden Umriß im Badezimmerfenster, das sich damals dem Zugreisenden darbot.
Früher hätte ich vielleicht länger ausgeharrt, riskiert, selbst deutlich sichtbar am offenen Fenster, aber mit nichts beschäftigt außer zu starren, bei meinem heimlichen Entzücken, das mir nicht als freundlich ausgelegt worden wäre, entdeckt zu werden. Aber was wissen diese Frauen schon.
Das Sehendürfen ist eigentlich keine Frage der Erkenntnis, sondern eine der Zuwendung, und, in der Zuwendung, der offenbarten Bereitwilligkeit, der bereitwilligen Offenbarung. Komm, du darfst sehen. Und dann auch: fühlen, schmecken, hören. Diese Zuwendung fehlt natürlich in der heimlichen Erkenntnis, die man sich ungebeten holt. An ihre Stelle tritt der Reiz der Selbstvergessenheit und Ahnungslosigkeit der Beobachteten. Allein das heimliche Schauen, muß man wohl meinen, empfängt den Eindruck eines vom Beobachter unbeeinflußten Daseins. Die Zuwendung reagiert auf den Beobachter. Das eine schließt das andere aus: Der Beobachter kann nicht zugleich gemeint sein mit dem, was er sieht. Der Gemeinte kann nicht sehen, was das Geschaute ohne ihn ist. Ohne ihn: das geschaute Objekt, wie es ist, wenn keiner zuschaut und alle Vorsichtsmaßnahmen, Masken, Täuschungen (absichtliche wie unwillkürliche), Personae, Schutzwälle fehlen, abgenommen, abgelegt worden sind ebenso wie die Kleider, jene alltäglichsten aller Masken.
Genau das ist der Reiz von Bildwerken, die eine Morgentoilette zeigen. Nirgends, darf man annehmen, ist man so selbstvergessen und alleine, so ausschließlich und zugleich selbstverständlich, alltäglich und banal bei sich selbst wie beim täglichen Waschen, Zähneputzen, Frisieren, Tätigkeiten, die so beiläufig sind wie sie lästig fallen können. Wenn Maler nicht auch den Stuhlgang oder das Wasserlassen abgebildet haben, so liegt das vielleicht daran, daß diese Vorrichtungen die Ausübende in unvorteilhafter Weise zeigen würden. Eine Ästhetik der Kloschüssel ist noch nicht erfunden, so weit ich weiß. Eine Ästhetik der Waschschüssel sehr wohl. Eine noch intensivere und jedenfalls ihrerseits ästhetische Beschäftigung mit sich selbst ist allenfalls die Masturbation, und auch dieses Tun ist ja beliebter Gegenstand der bildenden Kunst, von der Pornographie zu schweigen. Der Betrachter wird darin zum Voyeur, bei einem Tun, das sich unbeobachtet glaubt, oder aber, je nach Darstellung, vom Beobachter weiß und diesen, verschämt oder unverschämt, zum Zuschauen einlädt, indem sie ihn, der, dadurch, daß er das Bild betrachtet, einwilligt, zum Voyeur, zum Komplizen seiner eigenen Übertretung, ja, zum Teilhaber an der intimen Verrichtung macht. Indem der Betrachter verweilt, nimmt er die Zuweisung an wie auch die Verantwortung, die damit verknüpft ist. Anders als das Waschen jedoch ist die Masturbation gerade nicht selbstvergessen. Sie ist weder banal noch beiläufig noch lästig, höchstens alltäglich, und schon gar nicht läßt sich vorstellen, daß eine Frau gedankenverloren masturbiert. Es sei denn verloren in ganz bestimmte, dem augenblicklichen Tun förderliche Gedanken – aber dann ist sie nicht gedankenverloren sondern konzentriert. Das Waschen und Zähneputzen ist eine automatische Verrichtung, unbewußt, die sich dem Tagträumen anempfiehlt.
Jemanden beim Tagträumen zu beobachten, darin liegt großer Reiz und eine ebenso starke Scheu hält davon ab. Tagträumen ist ein Zustand höchster Aufmerksamkeit, in dem die Tagträumende ganz von sich abgelenkt ist. Ein Gedanke führt zum nächsten, und alle führen sie fort vom ich-denkenden Ich und lassen dieses vom Gedanken an sich selbst unbastionierte Ich in größter Offenheit und Schutzlosigkeit zurück. Eine besondere Form der Gedankenverlorenheit ist die Lektüre. Glückt das Lesen, ist dazu keinerlei Konzentration vonnöten. Konzentration hat ja immer einen Aspekt von Anstrengung, willentlicher Anspannung. Man muß seinen Gegenstand festhalten und dafür Kraft aufwenden; der Gegenstand aber versucht immer wieder zu entkommen, was ihm meist auch gelingt. Beim geglückten Lesen aber hält nicht die Leserin den Gegenstand sondern der Gegenstand die Leserin. Der Text zieht einen Gedanken, eine Vorstellung nach der anderen aus ihrem imaginativen Potential, das sie und nur sie bewohnt. Sie ist aber, wo sie wohnt, nicht bei sich selbst, sie ist bei den Helden der Geschichte, an der sie lesend teilnimmt. Ihr dabei zuzusehen, heimlich, hat etwas ähnlich Voyeuristisches, wie ihr dabei zuzusehen, wie sie sich wäscht oder anzieht (oder streichelt). Als könnte der Beobachter für kurze Zeit sie dort besuchen, wo sie gar nicht ist, wie wenn man ein Zimmer betritt, das sie für kurze Zeit verlassen hat, in dem aber etwas von ihr zurückgeblieben ist, ein Duft etwa, etwas, worüber sie keine Kontrolle mehr hat. In ähnlicher Weise hat man schon an der abgelegten Unterwäsche der Freundin gerochen, auch dies ein Akt des Voyeurismus. Sie weiß nichts davon und kann sich gegen die darin gewonnene Erkenntnis nicht zur Wehr setzen, sie nicht ungeschehen machen.
Die beiden Hundehalter, ein Paar, ihrerseits von einem Hundepaar begleitet, sie gehen in die Hocke, heben ihre bebrillten Gesichter auf, als schöpften sie in Kellen Licht aus der Dämmerung, ihre Hände tasten, tasten wie blind nach dem Fell der Tiere, und während ich vorbeilaufe, gleichen ihre gebeugten Knie denen von Menschen, die bei heimlichem Tun ertappt worden sind. Kaum bin ich außer Sichtweite, werden sie einander auf die Schulter klopfen, stelle ich mir vor, und sich krümmen vor lautlosem Lachen.
Donnerstag morgen, 26. September, die letzten Sätze im sechsten, ursprünglich einmal als Umklammerung und letzter Teil gedachten, sechsten Teils von nunmehr sieben Teilen des Romans formuliert. Die Datei, seit gut einem Jahr auf dem Desktop, in den Ordner "fertig" verschoben. Kein befriedigendes Gefühl. Nur das nagende schlechte Gewissen, heute aber wenig geschafft zu haben.
Wenn die Katze endlich zu fressen beginnt, gibt es ein Geräusch, als drehte man den Löffel in der Zuckerdose um. Dann folgt ein Schmatzen. Wenn die Katze endlich zu fressen beginnt, wählerisch, vorsichtig, als wäre die Mahlzeit noch fast zu heiß, fängt sie vorne an, am Schädel, sie beißt mit den hinteren Zähnen seitwärts zu. In der Mitte knirscht es nicht mehr, erst das letzte Stück, das am Schwanz festhängt wie ein Köder an der Angelschnur, gibt noch einmal ein mürbes Krachen, ein Krächeln, von sich. Der Bauchraum läßt eine graue Ziehharmonika aus Enddarm frei, der bleibt übrig und schleift eine Blutspur über den gekachelten Boden des Hausflurs. Magen, Leber, Lunge wandern ins Maul der Katze. Die Nieren werden verschmäht, scheinen, wie der Enddarm, nicht zu schmecken. Es krächelt, und der Unterleib verschwindet zwischen den Zähnen, nicht einmal der Schwanz, den ich mir unangenehm im Kaugefühl vorstelle, (aber was weiß ich schon vom Kaugefühl einer Katze, und wäre mir der Schädel samt Kiefer und Nagezähnen oder das Becken lieber?) ähnlich einem Stück Pelle am Ende der Wurst, bleibt übrig, übrig bleiben neben dem Darm nur zwei, halt, drei hellrote, glatte Kügelchen. Drei? Wieso hat diese Maus drei Nieren besessen? Doch was da nach dem Aufwischen kleinfingernagelgroß und annähernd rund auf dem Küchenkrepp liegt, sind keine Nieren. Unter einer gespannten glatten, transparenten Membran zeichnen sich Körperformen ab, liegt etwas eingefaltet wie eine Made, wie ein Parasit, sind am Ende einer Raupenform, aus der Pfotenwülstchen herauswachsen, winzige Schädelchen mit punktförmigen, schwarzen Augen daran auszumachen, die betreten dreinblicken, als wären sie bei einem dummen Streich ertappt worden, dessen tatsächliche katastrophale Folgen sich noch gar nicht zu erkennen gegeben haben.
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