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Mehr Thessalien (VI 333--412)
Fast neunzig Verse widmet Lucan diesem landeskundlichen Exkurs. Zuerst wird die geographische Lage der Region anhand der sie begrenzenden Gebirgszüge umrissen. Nachdem der Dichter die Entstehung Thessaliens aus einem Sumpf oder See geschildert hat, der einst dem Mythos nach die ganze Region bedeckt haben soll, zählt er die wichtigsten Flüsse auf, die seit der Hebung des Landes aus dem Wasser Thessalien entwässern. Die nächsten beiden Abschnitte sind teils sagenhaften, teils historischen Völkerschaften und Sippen gewidmet. Thessalien ist Heimat der Zentauren, von Iason (der mit dem Vlies), Ion, dem Stammvater der Ionier, der Pythischen Spiele, der Leleger und der Lapithen:
- 333--359 Grenzen, Berge, einzelnde Landschaften und Städte
- 360--380 Flüsse
- 381--394 mythische Völkerschaften; Leleger, Zentauren
- 395--412 mehr Mythologie, Lapithen, Iason, Ion, Python, die Pythischen Spiele; Aloeus und seine Kinder
Und jetzt also ist Thessalien der Schauplatz (bello quam fata parabant, "den das Schicksal für den Krieg bestimmt hatte") fürs letzte Gefecht. Was für ein Ort.
Sicher dient dieser Exkurs auch dazu, die Spannung zu steigern. Kurz vor der Entscheidungsschlacht halten wir noch einmal inne und studieren die Geographie, Geschichte und Mythologie des Schauplatzes. Ich tue es Lucan nach und zitiere hier noch einmal, weil es so schön war, einen mit griechischen Eigennamen gespickten Abschnitt.
"Zwischen diesen Bergen, in deren Mitte sich das Tal drückt, lagen die Felder einst unter einem ständigen Sumpf verborgen; solange die Ebenen die Flüsse zurückhielten und das Tempe-Tal noch keinen Zugang zum Meer bot, gab es für die Ströme, die den Sumpf füllten, nur einen Lauf: zu wachsen. Nachdem aber das Ossa-Gebirge sich durch die Hand des Herkules vom Olymp getrennt und Nereus die Wucht der herabstürzenden Wasser gespürt hatte, stieg das thessalische Pharsalos, das Herrschaftsgebiet des meerentstammten Achill, das besser unter Wasser geblieben wäre, aus dem Sumpf auf, und außerdem auch Phylake, das als erstes den Strand von Rhoeteum erreichte, Pteleos und das durch den Zorn der Pieriden beweinenswerte Dorion; der Berg Trachin und Meliboea, stark durch die Pfeile des Herkules, den Lohn für eine Leichenfackel, und das einst mächtige Larisa; und die Gegenden, wo man jetzt über dem einst edlen Argos pflügt; wo der Sage nach, von Echion gegründet, das alte Theben lag; wo einst die fliehende Agaue Pentheus' Haupt und Nacken dem Scheiterhaufen übergab und beklagte, daß das alles war, was sie dem Sohn entrissen hatte."
Achill heißt meerentstammt, weil seine Mutter die Meeresnymphe Thetis ist. Nereus, Sohn des Pontos und der Gaia, ist ein alter Meeresgott. Unter Wasser geblieben wäre Pharsalos besser deshalb, weil an diesem Ort Caesar über Pompeius den Sieg davontrug und damit der Römischen Republik das Ende bereitete. Protesilaos aus Phylake war der erste aus dem griechischen Heer, der vor Troja (an einem Felsen namens Rhoeteum) an Land sprang. Dorion ist der Ort eines Sangeswettstreits zwischen einem Sänger namens Thamyris und den Pieriden, einer Gruppe von sieben Musen. Man weiß aus Erfahrung, wie solche Wettkämpfe auszugehen pflegen. Meliboea ist der Geburtsort des Helden Philoktetes, der von Herkules seine vergifteten Pfeile erhielt zum Lohn dafür, daß er Herkules' Scheiterhaufen in Brand setzte. Agaue wiederum zerriß ihren eigenen Sohn in dionysischer Verzückung, (Sie wurde bestraft, weil sie die Mutter des Dionysos, Semele, geschmäht und seine göttliche Abkunft angezweifelt hatte).
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Geographischer Exkurs. Flußnamen
Eine der Pflichtübungen für jeden römischen Epiker (oder Elegiker, wie Ovid) ist der Einbau möglichst vielsilbiger griechischer Eigennamen in den lateinischen Vers. Besonders rühmliche (oder abschreckende, je nach Geschmack) Beispiele für das Ergebnis solcher Silbenjonglagen finden sich in den Metamorphosen, etwa der Hundekatalog in der Actaeon-Erzählung (III, 138–-252) oder der Kampf der Centauren mit den Lapithen (XII, 210–-531), um nur zwei Stellen zu nennen. Ein passender Vorwand für derartige Übungen sind geographische Exkurse über griechische Schauplätze, und die Verlagerung des Geschehens nach Thessalien bietet Lucan die Gelegenheit, seine Versbaukunst ebenso zu entfalten wie seine geographische und mythologische Gelehrsamkeit unter Beweis zu stellen. Schauen wir mal in ein solches Kunststückchen rein (VI, 360--377):
"Folglich entleerte sich der entzweigerissene See in vielen Strömen. Klaren Wassers, aber von geringer Strömung, fließt der Aias nach Westen und ins Ionische Meer. Nicht schneller gleitet der Vater der entführten Isis dahin, und der Fluß, der beinahe dein, Oineus, Schwiegersohn geworden wäre, verschlammt die Echinaden mit seinen fetten Fluten, während, von Nessus' Blut besudelt, der Euhenos das Calydon Meleagers durchläuft. Der Spercheios stürzt sich in den Malischen Golf, und mit klarem Strom bewässert der Amphrysos die Weiden, wo Phoibos einst Dienst tat. Asopos, Phoinix und Melas entspringen hier und der Anauros, der weder feuchte Nebel noch von Tau triefende Luft noch lauen Wind verbreitet; und schließlich die ganzen Flüsse, die das Meer nicht selbst kennenlernen, sondern ihre Wasser dem Peneios geschenkt haben. Es strömt, seiner Wirbel beraubt, der Apidanos und der Enipeus, der erst nach seiner Vereinigung schnell fließt. Als einziger verteidigt der Titaresos seine Wasser, nachdem er zum Namen eines anderen Gewässers gelangt ist: Auf dem Peneios dahingleitend nutzt er dessen Strömung wie trockenes Land."
Isis, Oineus, Euhenos, Spercheios, Asopos, Phoinix, Melas, Apidanos, Enipeus ... ächz! Man wird in solchen Passagen immer ein bißchen an Evelyn Hamann erinnert, die in der berühmten Fernsehansage tapfer beim Versuch scheitert, die englischen Orts- und Personennamen richtig auszusprechen.
Aber Lucan reiht hier nicht nur griechische Namensungetüme wie Lastkähne aneinander; eine zweite Aufgabe bei solcher Artistik ist es, besonders viele historisch-mythologische Anspielungen unterzubringen. Die Tochter des Flußgottes Inachos, Io, wurde von Zeus, na ja, vergewaltigt und dann, um die Spuren seiner Verfehlung vor Hera zu beseitigen, in eine Kuh verwandelt, die von der eifersüchtigen Göttergattin in Gestalt einer Dasselfliege um den halben Erdball gejagt wird, bevor sie am Nil wieder ihre menschliche Gestalt zurückerhält. Sie wird oft mit der Götting Isis identifiziert. Der Flußgott Acheloos war der unterlegene Mitbewerber des Herkules um die Hand der Deianeira, der Tochter des Oineus, daher also nur beinahe ein Schwiegersohn. So erwähnt Lucan den Fluß, ohne seinen Namen zu nennen. Auch Nessus ist mit der Deianeira-Herkules-Geschichte verbunden: Der Centaur, der dem Paar seine Hilfe bei der Überquerung des Flusses Euhenos anbietet, dann aber Deianeira zu entführen versucht, wird von Herkules bei der Überquerung getötet, weshalb also die Wasser des Flusses von Nessus' Blut besudelt sind. (Übrigens ist das der Nessus mit dem ~hemd.) Calydon ist die Heimat von Oineus, dessen Sohn Meleager den kalydonischen Eber tötete, deshalb ist also Calydon "meleagrisch", meleagrea. Das mit dem diensttuenden Apoll (Phoibos) wiederum ist so: nach einer Erzählung (Eoien, Fr. 64) werden die Kyklopen, Zeus Hauptlieferant für Blitze, von Apoll getöt, worauf dieser neun Jahre lang dem Admetos (natürlich in Thessalien) dienen muß.
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Noch einmal Scaeva
Lucan hat Scaeva nicht erfunden, da der Mann bei Caesar erwähnt wird; aber er hat ihm eine Geschichte gegeben, ein (tragisches) Gesicht. Für Lucan besteht die Tragik darin, daß dieses Opfer auf der falschen Seite gebracht wurde, auf der Seite derer, die für Lucan Usurpatoren legitimierter Macht und Zerstörer der diese Macht legitimierenden Ordnung sind. Was hätte dieser Mann im Lager des Pompeius nicht für die Sache der Republik leisten können! So aber hat er, indem er den Ausfall des Pompeius verhinderte, langfristig einem Tyrannen zum Thron verholfen. Sein Opfertod ist nicht nur sinnlos, sondern moralisch falsch.
Und noch etwas: Der Name Scaeva muß Lucan als Steilvorlage gedient haben. Der Dichter kann sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Auf schmerzliche Art ruft der verwandte Klang Scaeva-Scaevola in Erinnerung, wie in der Anfangszeit Roms die Bürgersoldaten der Stadt geschlossen einem gemeinsamen Feind entgegenzogen. Jetzt kämpfen sie von einer Art Verblendung getrieben, gegeneinander, und ein gemeinsames Rom scheint es gar nicht mehr zu geben, nur noch einzelne Feldherren, denen man hinterherläuft, solange sie gut genug zahlen. Auch den Feldherren geht es nicht um Rom (oder ihre persönliche Vision von Rom), sondern um die eigene Stellung, die eigene dignitas und auctoritas. Die Zeiten, da ein Scaevola seine rechte Hand für das Gemeinwohl opferte, sind vorbei, auf einen wie Scaevola wartet Pompeius vergebens, jetzt rettet nicht, jetzt verhindert ein Scaeva, und sei der noch so tapfer, mit seiner Wahnsinnstat die Rettung der Republik.
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Hunger
Beide Seiten, Caesar wie der eingeschlossene Pompeius, verleben nicht gerade supergute Tage. Krankheit bei den Belagerten, Hunger bei den Belagerern: Caesar scheint vom Nachschub abgeschnitten, das Korn ist noch nicht reif, die Soldaten darben. Wie schon beim großen Durst von Ilerda verwendet Lucan einige Sorgfalt auf die Beschreibung des Hungers: die Männer fallen über Viehfutter her, riskieren Vergiftungen, indem sie unbekannte Pflanzen kosten, pflücken Blätter von den Sträuchern und zwingen die kaum den Namen verdienende Speise durch wunde Kehlen hinunter.Aristie des Scaeva (VI 140--250
Und eine Aristie lateinischer Syntax zugleich:
"Die Stellung, die Fortuna nicht mit tausend Geschwadern und dem ganzen Heer Caesars nicht wegnehmen würde, entriß ein einzelner Soldat den Siegern und verhinderte die Einnahme und behauptete, solange er Waffen in der Hand halte und noch nicht niedergestreckt sei, solange habe Magnus nicht gesiegt." (140--143)
(Man würde in einer deutschen Textausgabe wohl nach locum zur Abtrennung des vorangestellten Relativsatzes ein Komma setzen. Vorangestellte Relativsätze sind im deutschen höchst ungewöhnlich, in lateinischer Poesie -- weniger in der Prosa -- aber recht gebräuchlich. Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los ist ein Beispiel im Deutschen. Im vorliegenden Textbeispiel: quem ... noch auferret Fortuna locum, [eum] victoribus eripuit "Den Fortuna nicht fornehmen würde, den Ort, [den] entriß er den Siegern" -- Das ist aber noch nichts gegen die wirklich vertrackten Stellen im Lucan, wir kommen noch dazu.)
Der Name Scaeva (ein sprechendes Cognomen, scaevus bedeutet "links") läßt aufhorchen. War da nicht schon einmal was mit einem Linkshänder? Scaevola hieß der Mann, ein Held der Frühzeit Roms. Seinen Namen trägt er seit dem Verlust seiner rechten Hand, die er als Gefangener im Lager des Lars Porsenna, eines Feindes der jungen Republik, in ein Kohlebecken hält, bis sie verbrannt ist: "Wir haben hunderte solch unerschrockener Männer", erklärt er kaltblütig dem feindlichen König. -- Nun ist der Name Scaeva zwar bei Caesar belegt. Aber nichts hindert den Dichter daran, auch hier eine Ätiologie einzuführen: Diesmal besteht die Unerschrockenheit darin, daß der Held seinen Schild wegwirft, um auch mit der linken Hand kämpfen zu können. Es soll nicht heißen, er habe schuldhaft sein Leben gerettet, weil er sich mit der Linken, dem Schildarm, geschützt habe anstatt auch mit dieser Hand zu töten.
Schutzlos und allein gegen ein ganzes Heer antretend, ist Scaeva bald von Pfeilen gespickt, so dicht, daß weitere Pfeile nicht mehr durchdringen.
"Schon hält nichts mehr von den ungeschützten Organen ab außer den Speeren, die schon in den äußeren Knochen stecken." (194f)
Ein Geschoß bleibt in Scaevas Auge hängen -- er reißt Pfeil mitsamt dem Auge heraus und trampelt zornig darauf herum. Die ganze Schilderung kippt ins unfreiwillig Komische; wie Scaeva einfach nicht unterzukriegen ist, hat etwas Ritter-der-Kokosnuß-Haftes: "Das ist nur ein Kratzer, schlag zu, du Feigling!" Andererseits aber erleben wir einen verzweifelten Menschen mit suidizaler Tendenz. Die Verbiestertheit, mit der Scaeva die Stellung hält, bis Verstärkung eintrifft, auf jeden Schutz verzichtet, ja, sich selbst gar nicht erlaubt, zu überleben, weil das nach seiner Auffassung eine Schande wäre, ist weniger Todesverachtung als vielmehr Todessehnsucht:
"Schon birgt er die Brust nicht mehr mit dem Schild, und aus Sorge, man könne von ihm glauben, er sei hinterm Schild und mit dem Schildarm untätig gewesen und durch seine eigene Schuld am Leben geblieben, geht er so vielen Wunden allein entgegen und sucht sich, einen dichten Wald [von Speeren] in der Brust tragend, einen der Feinde aus, auf den er, schon mit wackeligen Beinen, fallen kann." (202--206)
Und noch was ganz was anneres
Vor vielen Jahren stritt ich mich mit einer Kommilitonin um die Frage, ob öffentliche Leihbibliotheken auch einen Bildungsauftrag haben (sollten) und daher einen gewissen Kanon anbieten müßten (meine Ansicht), oder ob sie, da aus Steuergeldern finanziert, den Geschmack eben dieser Steuerzahler bedienen müßten (die Ansicht der Kommilitonin; meine eigene: wer Schund will, soll dafür bezahlen). Anlaß zu dem Gespräch war meine Entrüstung darüber, daß die fragliche Stadtbibliothek den vielgelobten Klassiker der Wissenschaftsgeschichte The making of the atomic bomb von Richard Rhodes, nein, nicht nicht im Bestand hatte, sondern das ehemals im Bestand befindliche Exemplar, na ja, aus dem Katalog gestrichen hatte. An dieses Gespräch mußte ich heute früh denken, als ich glucksend vor Vergnügen dieses Zitat las. Hahaha! Trivialität im Endstadium, das freut mein bildungssnobistisches Herz.
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Wie schwierig Lucan manchmal ist, mag man aus dem Vergleich unterschiedlicher Übersetzungen ersehen. Für die Übersetzung von Lucan gilt besonders, was für die Übersetzung insgesamt gilt, nämlich daß jede Übersetzung immer auch eine Deutung, eine Interpretation ist.
Ich nehme als Beispiel V 746f:
ruina von ruo "stürze" ist der Sturz. properare "eilen, schnell machen", hier entweder als Part. Präs in einer Absolutkonstruktion, "sich beeilenden Sturzes" oder modal "mit einem schnellen Sturz", "schnell stürzend". summa, n. pl., "die höchsten Dinge", "was am höchtsten aufragt". Also heißt das ganze wörtlich etwa: "die höchsten Dinge fallen mit schnellem Sturz".
A. S. Kline Übersetzt das so: "the greatest ruin comes swiftly" Ruin ist nun wirklich mehr als nur ein Sturz; und wo sind die hohen Dinge abgeblieben? Der Sinn sollte ja wohl sein, daß, was am höchsten ist, auch am schnellsten wieder runterkommt.
Edward Ridley: "things highest fall / With speediest ruin." Noch einmal ruinöse Dinge, wo nur von einem Sturz die Rede war (ruo im Lateinischen kann von Flüssen und Erdrutschen ebenso gesagt werden wie von einstürzenden Gebäuden; aber auch für Krieger, die sich auf einen Gegner, oder für Raubtiere, die sich auf ein Opfer stürzen, kann es gebraucht werden; derartige Assoziationen gehen bei engl. ruin verloren.
Hören wir zuletzt Georg Luck in der zweisprachigen Reclam-Ausgabe. Der zieht die zwei Halbverse mit dem Satz den Satz davor, praecipites aderunt casus in der Übersetzung zusammen und macht daraus: "Die Ereignisse werden sich überstürzen, und wenn die Katastrophe da ist, fällt das Oberste zuerst" Das wird dem Sinn des Originals sehr gut gerecht, ist aber so frei, daß es mehr eine Paraphrase denn eine Übersetzung ist.
Damit bin ich mit Buch V durch. Eine Szenenübersicht:
- Lentulus Rede vor dem Exilsenat
- Appius befragt das Orakel in Delphi
- Fast eine Meuterei in Caesars Heer
- Caesar begibt sich nach Rom, läßt sich zum Dictator ernennen
- Caesar setzt nach Illyrien über
- Caesar beordert Marcus Antonius nach Illyrien
- Der kommt aber nicht. Seeabenteuer
- Besseres Wetter: endlich Verstärkung für Caesar aus Italien
- Pompeius schickt Cornelia nach Lesbos
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Buch V endet mit einem Abschied. Wie Lucan diese Szene gestaltet, ist wirklich herzzerreißend, und sollte jemand noch daran gezweifelt haben, daß Lucan ein großer Dichter ist, so dürfte dieser Zweifel spätestens hier ausgeräumt sein. Pompeius sieht, wie Caesar Verstärkung um Verstärkung zuläuft und ahnt, daß der Krieg sich der Entscheidung nähert. Aus Angst um das Leben seiner Gattin Cornelia schickt er sie fort, nach Lesbos, dort soll sie das Ende des Krieges abwarten. Sollte Pompeius geschlagen werden und noch fliehen können, will er einen Ort haben, an den er entkommen und sich mit seiner Gattin treffen kann. Cornelia ist über diese Absicht außer sich; es ist ihr unerträglich, in der Ferne nicht zu wissen, wie es um ihren Mann steht; noch das Schiff, das die Kunde seines Sieges brächte, müßte sie fürchten. Ich übersetze die Szene mal in voller Länge (V 722--815), den lateinischen Text findet man beispielsweise hier:
"Da von allen Seiten Caesars Heer frische Truppen zuströmten, begriff Pompeius, daß seinem Lager die letzte Entscheidung des grausamen Konflikts bevorstand. Da beschloß er, die süße Last seiner Gattin in Sicherheit zu bringen. Ja, er will dich, Cornelia, nach Lesbos bringen lassen und dich dort, fernab vom wüsten Schlachenlärm, verstecken. Ach! Wie leitet nicht aufrechte Gemüter die rechtschaffene Ehe! Auch dich, Pompeius, hat die Liebe zögerlich und ängstlich vor dem Kriege werden lassen. Als einzige sollte Cornelia den Schlag des Schicksals, der die Welt und die Zukunft Roms treffen würde, nicht spüren müssen. Da lassen die Worte die schon gefaßte Absicht im Stich, und schon im Begriff, was kommen muß, herbeizuziehen, will er sich noch einem Aufschub überlassen und dem Schicksal eine kleine Weile entwenden. Als der Tag anbricht und den Schlaf vertreibt, wärmt Cornelia mit ihrer Umarmung die von Sorgen schwere Brust ihres Mannes; doch als sie ihm Küsse geben will, wie sie ihm gefallen, wendet er sich ab; sie erschrickt über die feuchten Wangen, und von einem dunklen Schmerz getroffen, wagt sie es nicht, mit anzusehen, wie Pompeius weint. Der aber spricht seufzend zur ihr: 'Nun bist du mir, da ich des Lebens überdrüssig geworden bin, nicht mehr süßer als das Leben, doch warst du es einmal, in froheren Zeiten. Liebe, der traurige Tag ist da, den wir zu lange und doch nicht lange genug hinausgezögert haben; Caesar ist zur Schlacht bereit. Du mußt fliehen vor diesem Krieg: Lesbos wird dir ein sicheres Versteck bieten. Versuch nicht, mich mit Bitten umzustimmen: Ich habe sie mir selbst schon abgeschlagen. Du wirst die Entfernung von mir nicht lange ertragen müssen; die Dinge werden sich überstürzen, und Großes stürzt am schnellsten ein. Es reicht, daß du von den Gefahren, die mir drohen, weißt. Wenn du es erträgst, den Bruderkrieg mit anzusehen, hast du mich und meine Liebe getäuscht. Ich schäme mich, am Vorabend der Schlacht neben meiner Frau in Sicherheit zu schlafen und, wenn die Trompete diese erbärmliche Welt zum Beben bringt, mich von deiner Seite zu erheben. Ich scheue mich, in den Bürgerkrieg zu ziehen, ohne ein persönliches Opfer gebracht zu haben. Bleib du in deinem Versteck, sicherer als alle Völker und Könige. Fern von mir möge dich das Unglück deines Gatten nicht mit voller Wucht erdrücken. Sollten die Götter unsere Schlachtreihe zerschlagen, dann soll das Beste von mir erhalten bleiben und ich, wenn das Schicksal mir zusetzt und der blutbefleckte Sieger mir auf den Fersen ist, einen Ort haben, an den ich dann fliehen kann.' Kaum ertrug da Cornelia den Schmerz, eine Schwäche kam über sie, und die Sinne wollten ihr schwinden. Endlich vermochte die Stimme ihren Protest in traurige Worte zu fassen: 'Es bleibt mir nichts mehr über das Schicksal unserer Ehe oder die Götter zu klagen, Magnus. Nicht der Tod zerbricht unsere Liebe, nicht die letzte Fackel am grausamen Scheiterhaufen, nein! Ich teile das gwöhnliche, triviale Schicksal so vieler anderer Frauen -- und werde von meinem Mann verlassen! Beim Nahen des Feindes das Ehegelöbnis brechen, den Schwiegervater besänftigen -- das also, Magnus, verstehst du unter unserer Treue? Glaubst du, daß irgend etwas für mich sicherer sein kann als für dich? Teilen wir denn nicht dasselbe Geschick? Du heißest mich, fern von dir dem Blitz und Donner und dem totalen Untergang die Stirn zu bieten? Scheint es dir ein leichtes Los für mich, schon längst gestorben zu sein, während du noch um Rettung betest? Selbst wenn ich mich weigern sollte, dem Übel weiter zu dienen, sondern mir den Tod gäbe und dir in die Unterwelt folgte, dann würde ich doch solange dich überleben müssen, bis die traurige Kunde von deinem Tod endlich das Land meines Exils erschüttert hätte. Mehr noch, du Grausamer! Du gewöhnst mich an das Schicksal und lehrst mich, einen so großen Schmerz zu ertragen. Verzeih mir, wenn ich aufrichtig spreche: Ich fürchte mich davor, ihn ertragen zu können. Wenn also Gebete helfen und die Götter mich erhören, dann werde ich, deine Gattin, als letzte vom Ausgang der Ereignisse erfahren. Wie angeleimt werde ich auf der Klippe ausharren, während du vielleicht schon gesiegt hast, und das Schiff fürchten, das die frohe Kunde bringt. Und auch die Nachricht von deinem Sieg wird mir die Furcht nicht nehmen, kann ich doch, verschlagen an einen öden Ort, selbst noch von einem flüchtigen Caesar entführt werden. Der bekannte Name wird sich an jenem Gestade herumsprechen, wem bliebe verborgen, daß Pompeius seine Frau in Mytilene untergebracht hat? Also ist dies meine letzte Bitte an dich: Solltest du unterliegen und dir nichts mehr als die Flucht übrigbleiben, dann lenke, wenn du dich dem Meere anvertraust, dein unglückverheißendes Schiff woanders hin. Denn man wird dich dort suchen, wo ich bin.' So sprach sie. Dann springt sie wie von Sinnen vom Lager auf, um die Qual nicht noch zu verlängern, Pompeius' süße Umarmung, sich an seine Brust, seinen Hals zu schmiegen, erträgt sie nicht; und in diesem Moment vergeht die letzte Blüte einer so langen Liebe. Sie stürzen sich in ihre Trauer, scheidend erträgt es keins von ihnen, auch nur Lebewohl zu sagen. Der beiden ganzes Leben enthielt keine traurigere Stunde als diese; denn die kommenden Katastrophen würden sie gefaßt ertragen, mit einer durch bereits erlittene Übel gestärkten Haltung. Ohnmächtig sinkt Cornelia nieder, ihre Dienerinnen fangen sie auf, man trägt sie zum Meeresstrand, wo sie sich auf die Erde wirft und sich am Sand festkrallt; schließlich wird sie an Bord gebracht. Selbst damals, als sie, bedrängt von den Truppen des grausamen Caesar, die italische Heimat verlassen mußte, war sie nicht so unglücklich wie jetzt. Jetzt reist die treue Gefährtin des Pompeius ganz alleine, verläßt ihren Führer, flieht. Was für eine schlaflose Nacht erwartet dich, Cornelia. Alleine im ungewohnt leeren Bett, eine eisige Ruhe, keinen Mann, der sich an deine nackte Flanke schmiegt. Wie oft täuschten ihre Hände sie, wenn sie, betäubt von Schlaf, das leere Bett umarmte, in der Nacht ihren Mann suchte, bis ihr wieder einfiel, daß sie ja geflohen war. Obwohl sie bis ins Mark glühte vor Sehnsucht, half es nicht, sich im ganzen Bett zu wälzen: seinen Teil des Lagers sparte sie aus. Sie fürchtete, ihren Mann für immer entbehren zu müssen; aber das wäre noch glimpflich gewesen. Etwas anderes hatten die Götter ihr bestimmt. Schon nahte die Stunde, die der Unglücklichen ihren Pompeius wiederbrächte.
Lucan V 515--531
Man muß bei der Schilderung, wie Caesar die Hütte des epirotischen Fischers aufsucht, sofort an den Topos des Götterbesuchs (Philemon und Baucis, Ceres in Eleusis) denken: die Bescheidenheit, aber auch die Unabhängigkeit dessen, der nichts zu verlieren hat, von den Großen der Welt; die ungezwungene Hilfsbereitschaft, das Motiv der (in Aussicht gestellten) Belohnung. Die Frage ist, was soll diese Episode? Caesar als Gott darzustellen? Wohl nicht. Das Ideal eines genügsamen Lebens frei von Machtstreben, Besitz und Herrschaft vorzustellen, sozusagen als Relikt eines verflossenen goldenen Zeitalters? "Oh vergessenes Göttergeschenk". heißt es da:
"Hinter welchen Mauern und Tempeln hätte er [der Fischer] es wohl geschafft, nicht von innerem Aufruhr zu zittern, wenn Caesar an seine Tür klopft?" (Oder, je nachdem, ob man quibus auf templis ... aut ... muris bezieht oder als Fragepronomen liest: "Wem könnte, hinter Tempeln und Mauern, gelingen, etc.")
Caesar ist kein Gott, und er bittet auch nicht, er befiehlt; was ihn, gekleidet in einen einfachen Mantel, in dieser Szene vom Fischer unterscheidet, ist seine Sprache:
Der Fischer hat keinen Herrn über sich, er ist sein eigener Herr. Wenn Caesar ihm die Überfahrt nach Italien befiehlt, weiß er ganz genau, daß er auf den Fischer angewiesen ist, nicht umgekehrt. Beide wiederum sind machtlos gegen die Natur, wie der Fischer nach einer langen Aufzählung schlechter Wetterzeichen den Heerführer sanft belehrt:
"Aber wenn die Engpässe der großen Geschehnisse es erfordern, dann will ich nicht zögern, mich einzubringen. Entweder ich schaffe es an die von dir befohlene Küste, oder, wenn nicht, dann werden es Meer und Wind vereiteln." Womit klargestellt ist: Mir kannst du befehlen, Caesar, nicht dem Wind und den Wellen.
Das vergessene Göttergeschenk -- das wahre Göttergeschenk! In einer einfachen, aus Binsen geflochtenen Hütte mit einem umgedrehten Boot als Tür sitzen, alles haben, was zum Leben nötig ist und die Mächtigen nicht fürchten müssen. Ja, Caesar tritt auf wie ein Gott, wie Zeus bei Philemon und Baucis, wie Ceres bei Celeus, aber was er zu bieten hat, ist gerade nicht das Göttergeschenk. Caesars Auftritt als Quasi-Gott ist nur ein weiterer Akt der Usurpation, ein Zeichen seiner Hybris.
Interessante Tatsache beim formidablen FF gelesen. Der zitiert eine Studie über das Mißverhältnis zwischen den Empfehlungen, die manche Regierungen den Bürgern zur Minderung des Kohlendioxidausstoßes geben, und den Maßnahmen, die tatsächlich am meisten CO2 einsparen. Unter letzteren liegt vorne, aber nicht ganz vorne, auf Platz zwei: Auf einen Transatlantikflug pro Jahr verzichten. Platz drei: autofrei leben. Danach kommen Maßnahmen, die nur noch wenig bringen: auf Wäschetrockner verzichten, Energiesparlampen benutzen, etc. Und was liegt auf Platz eins? Ein Kind weniger in die Welt setzen.
Von einer peniblen Klassifikation geht immer eine Beruhigung aus. Schaut, wir haben die Dinge gezählt und nach Gruppen geordnet, wir haben für jede Gruppe Grenzwerte, Vorschriften, Verhaltenskataloge erstellt, wir haben Hinweistafeln konzipiert und Kürzel zum Aufdruck auf Verbraucherpackungen. Es ist alles unter Kontrolle, kein Ding entwischt unserer engmaschigen Taxonomie, und wenn kein Ding unserer Taxonomie entwischt, dann entwischt es auch nicht den Verordnungen, Regeln und Gesetzen, unter die es ausweislich seiner taxonomischen Einordnung fällt. Der menschliche Ordnungssinn ist erstaunlich. Eigentlich nicht erstaunlich, was man alles klassifizieren kann -- aber wie jede gute Idee ist auch der Einfall, einen Ausschnitt der uns umgebenden oder von uns geschaffenen Welt einer strengen Taxonomie zu unterwerfen, erst rückblickend einleuchtend und simpel. Von PT1/menschliche Hygiene (Bei den Produkten dieser Produktart handelt es sich um Biozidprodukte, die für die menschliche Hygiene verwendet und hauptsächlich zum Zwecke der Haut- oder Kopfhautdesinfektion auf die menschliche Haut bzw. Kopfhaut aufgetragen werden oder damit in Berührung kommen) bis PT22/Flüssigkeiten für Einbalsamierung und Taxidermie ist alles, was irgendein Leben zweckmäßig tötet, aufgelistet und in Schubladen sortiert: Hauptgruppe 1 Desinfektionsmittel (darin "Desinfektionsmittel und Algenbekämpfungsmittel, die nicht für eine direkte Anwendung bei Menschen und Tieren bestimmt sind" und die simple Kategorie "Trinkwasser", Desinfektionsmittel für Trinkwasser), Hauptgruppe 2 Schutzmittel (darin das beruhigende PT12, Schleimbekämpfungsmittel), und so geht es weiter bis Hauptgruppe 4 Sonstige Biozidprodukte, letztere ein wenig unbefriedigend, denn keine Klassifikation ist vollständig, in der es Reste gibt, Restkategorien sind ein Ausdruck von Ratlosigkeit und mangelhaftem kognitiven Zugriff, wenn sie nicht sogar ein Einfallstor sind für das ganze Gebäude unterwandernde Fremdkörper. Denn letzten Endes ist die Restkategorie genau die Stelle, wo ein Ding eben doch der Klassifikation entwischt. Denn alles, was in die Restkategorie fällt, ist ja per definitionem anderweitig nicht klassifizierbar -- und führt also die Klassifikation selbst ad absurdum.
Lucan, V 374
(iuventutem) decumis castris Brundisium attingere iubet "mit dem zehnten Lager" also "in neun Tagen"
382 (servire) togae: wieder eine dieser reizenden Metonymien. Steht hier für denjenigen, der sie trägt, i.e. der Privatmann, der Bürger. (Über Caesar, dem alle in Rom gehorchen, obwohl er über keinerlei Amtsgewalt verfügt.) Vgl. III 108 privatae vocis (testes)
385 omnis voces "alle Stimmen" --> "alle (Amts-)Titel"
392 fingit sollemnia Campus "das (Mars-)Feld" --> "die Volksversammlung" (Vgl. "der Kreml" --> "die russische Regierung")
Deutlich jetzt die Haltung der Erzählstimme zu Caesar. Das Prozedere, mit dem der Feldherr sich zum Consul und Dictator ausrufen läßt, ist eine Farce; die Zeiten sind "traurig" (maesta tempora, der gleiche Wortstamm wie für die Beschreibung der Stadt, in die der neue Herrscher Einzug hält, durch Lentulus verwendet, vgl. III 30, maerentia tecta; die Urne ist leer; das Volk ist gar nicht zur Abstimmung zugelassen. Was hier abgezogen wird, ist die bloße Show, das Spektakel einer Republik. Dieser Befund wird noch unterstrichen durch die Metonymie Campus; indem das Marsfeld selbst täuscht, beraubt, aufruft und die leere Urne schüttelt, bekommt der Vorgang etwas Gespenstisches und Seelenloses. Nur ein Augur wird genannt, der "sich taub stellt" gegen das unheilverkündende Donnern; das nächste Verb ist im Passiv, die von der falschen Seite fliegende Eule "wird aufgefaßt" als gutes Zeichen. Auch hier keine handelnde Person. Nur der Schatten Caesars, der das alles in Gang gesetzt hat. Die Stelle schließt an 113f an, wo es heißt, die Herrschenden fürchteten die Zukunft so sehr, daß sie die Orakel verboten. Hier kommt das Vorzeichen ungerufen, wird aber ignoriert. Vgl. auch die Anfangsszene bei der Überquerung des Rubicon, I 202ff, wo Caesar die warnende Erscheinung der personifizierten Roma zwar nicht ignoriert, sich aber ihr gegenüber nicht ohne Selbstbewußtsein rausredet, er komme nicht als Feind Roms.
397f (perit) ... quondam veneranda potestas / iuris inops "So geht zum erstenmal die einst verehrungswürdige Amtsgewalt, beraubt ihrer Rechte, zugrunde". Das schließt unmittelbar an die Rede des Lentulus zu Beginn von Buch V an (29f): non umquam perdidit ordo / mutato sua iura solo "Unser Stand hat niemals seine Rechte verloren." Doch, hat sie, de facto, denn was ist das Recht ohne die Gewalt, es durchzusetzen? In Rom sitzt Caesar, nicht Pompeius, und Caesar wird da hockenbleiben bis zu seiner Ermordung und der nächsten Runde Bürgerkriege. -- Interessant ist, wie hier mit dem Begriff des Rechts (ius) gespielt wird. Für Lentulus ist es etwas Unveräußerliches, das der Rechtsträger auch dann besitzt, wenn ihm die Mittel fehlen, es einzuklagen; die Erzählstimme ist realistisch, für sie ist ius durchaus verlierbar oder bestreitbar, es reicht, daß einer wie Caesar kommt und Tatsachen schafft.
402 (Feriae) Latinae: Die Bundesfeier aller latinischen Städte auf dem Albanerberg. (Der neue Pauly s.v. Feriae Latinae). Die Feriae Latinae mußten vom Consul gleich nach Amtsantritt angesagt werden; erst danach durfte er seine Amtsgewalt als Heerführer ausüben. Das heißt, die Farce bei Caesars "Consulat" wird in allem Pomp durchgespielt. Interessant, daß ein Jahr zuvor, I 550, dieselbe Feier durch Natureireignisse gestört wurde, vgl. den langen Katalog der warnenden Vorzeichen in Buch I (526--583):
"vom Vestaaltar wird das Feuer fortgerissen, und die Flamme, die das Ende der Feriae Latinae anzeigt, spaltet sich und steigt mit einer Zwillingszunge empor."
(Weiter in der Rede Caesars an die meuternden Soldaten)
Lange gegrübelt, was das heißen soll. Schon die sprachliche Deutung macht Probleme: "Eure Treue (wäre? ist?) für mich nicht besser, wenn ihr Kriege weder mit mir als Feldherrn noch mit mir als Feind führt (Präsens Indikativ). Wer auch immer meine Feldzeichen verläßt und dann seine Waffen nicht Pompeius' Partei anbietet, der will niemals mein Mann sein." Das Lateinische ist eine Sprache ohne Schleifchen, jede Aussage muß mit einem Minimum an Zeichen auskommen. Das bedeutet für den modernen Leser (aber auch für einen zeitgenössischen Leser, der aus einem anderen sprachlich-literarischen Kontext stammt, etwa dem des griechischen) bedeutet das die Aufgabe, interpretierend das zu restituieren (quasi aufzuklappen), was im knappen Ausdruck weggelassen oder nur impliziert (quasi eingefaltet) ist. Dazu gehört für deutschsprachige Leser, daß sie beispielsweise Fokuspartikeln wie erst, noch, schon, nur, doch und ja, oft aber auch ganze Modalverben ergänzen müssen. Im oben angeführten Abschnitt fehlt gleich mal eine Form von esse und damit die Information über Tempus und Modus. Erst das Verb geritis gibt Auskunft, daß der si-Satz als Realis zu verstehen ist. Intuitiv würde man die Stelle als verquaste Formulierung des Dictums lesen wollen, Wer nicht für mich ist, ist wider mich. Aber wenn man genau hinschaut, steht das da nicht. Ich versuche eine andere Paraphrase: "Ihr steht vor mir keinesfalls besser da, wenn ihr euch entscheidet, weder mit mir zu kämpfen noch gegen mich. Wer mich verläßt, ohne sich Pompeius anzuschließen, konnte mein Mann nicht gewesen sein." Was das numquam vult esse meus schon arg strapaziert. Vielleicht so: "wer .... der hat es nie ernst mit mir gemeint, der will niemals mein Mann gewesen sein." (Caesar spricht seinen Legionären damit rückwirkend Treue und Engagement ab, eine Beleidigung und Provokation mit dem Zweck, das Ehrgefühl der Zurechtgewiesenen zu triggern.) Und noch freier: "Mit so unentschiedenen Lappen kann ich nichts anfangen; wenn ihr Männer seid, dann bleibt hier oder geht zu Pompeius, aber wenn ihr hier einen auf Neutralität und Frieden macht, dann war eure bisherige Treue wertlos, steht eure ganze bisherige Tapferkeit in einem fragwürdigen Licht da, habt ihr bei mir erworbene Ehre und Ansehen verspielt."
Dazu noch V 358: tradite nostra uiris ignaui signa Quirites. "(verlaßt das Lager und) übergebt als bräsige Bürger unsere Feldzeichen (echten) Männern." -- (Dunkel erinnere ich mich an ein Proseminar mit Peter Frisch (Uni Köln), wo von dieser oder einer anderen Stelle die Rede war. Ausgehend von einem ganz anderen Text, erklärte der Dozent uns damals, die Anrede Quirites sei der springende Punkt; damit werde ein Assoziationsfeld aufgemacht, das ein echter Soldat niemals für sich akzeptieren könne; damit habe Caesar seine Legionäre in dieser riskanten Lage noch einmal herumgekriegt. Seitdem muß ich jedesmal, wenn ich den Ausdruck Quirites irgendwo lese, an dieses Seminar denken. Es ist durchaus faszinierend und auch rührend, wie einem die Lektüre Jahre und Jahre später genau die Textstelle unter die Augen bringt, die dereinst in einem Proseminar erwähnt wurde, und deren Quelle man natürlich längst vergessen hatte.)
(Lucan V 300--339) Wie kriegt man eine unzufriedene, zur Meuterei bereite Menge Soldaten wieder gefügig? Man packt sie bei ihrer Ehre, ihrem Stolz und ihrem Ehrgeiz. imbellis anima "unkriegerischer Charakter", fugam meditata iuventus "auf Desertion sinnende Mannschaft", lassata iuventus "verweichlichte Mannschaft", das ist das Vokabular, das Caesar in seiner Rede an die unzufriedenen Legionäre verwendet: ihr könnt gehen, ihr Feiglinge; überlaßt mich meinem Krieg und meinem Schicksal; aber für jede eurer abgelegten Waffen wird sich ein echter Mann finden. Ihr glaubt doch nicht, daß halb Italien mit einer gewaltigen Flotte Pompeius auf seiner Flucht folgt, mir aber meine Siege keine Truppe verschaffen werden, die euch eurer Belohnung fürs Kämpfen berauben und mich auf meinem Triumphzug begleiten wird? So führt Caesar den Soldaten die vermeintlichen Folgen ihrer Desertion vor Augen: als verachtete Schar von Greisen werdet ihr, die römische Plebs, meinen Triumph erleben. Mit anderen Worten: jetzt kneift ihr, aber später, wenn wir gesiegt haben und den Lohn unserer Mühe ernten werden, dann werdet ihr nicht dabei gewesen sein. Dabei stellt Caesar diese Konsequenz als die einzige mögliche dar. Was in einer Rede nicht gesagt wird, existiert nicht. Und den unzufriedenen Legionären fehlt der Weitblick oder auch einfach die Intelligenz, sich aus diesem Entweder-Oder zu befreien und dritte oder vierte Wege zu imaginieren. Oder auch nur eine Güterabwägung aufzumachen. Aber wie ja Unzufriedene oft einfach nur unzufrieden sind, haben auch die meuternden Soldaten keine Ahnung, was sie eigentlich wollen, nur, wovon sie langsam genug haben. Eine konkrete Forderung könnten sie nicht formulieren. -- Zweiter Redetrick: Den Soldaten gegenüber den Gleichgültigen spielen: Geht doch! Das rührt mich gerade so, wie es den Ozean rührt, der von den Flüssen nicht wächst und, sollten alle Quellen versiegen, nicht schrumpfen würde, ich brauche euch nicht, mir doch egal, macht, was ihr wollt. Ein starker Bluff, denn Caesar weiß (vgl. V 254 scit non esse ducis strictos sed militis enses "Er weiß, daß es nicht die gezückten Schwerter des Anführers sind, sondern der Soldaten) genauso gut wie die Legionäre, daß beide, Feldherr wie Soldaten, aufeinander angewiesen sind, nicht zuletzt durch die gemeinsame Schuld, die sie am Bürgerkrieg tragen.
V 335f:
Wenn es einen Preis für das verschwurbelste Hyperbaton gäbe, diese anderthalb Verse wären ein guter Kandidat. In normaler Stellung, also, wo alles, was zusammengehört, auch zusammensteht, lauten sie so:
An Caesaris cursus damnum vestrae fugae sentire posse putatis? "Oder glaubt ihr, daß Caesars Marsch durch eure Flucht einen Schaden spüren könnte?"
Bei der nächsten Internetbestellung mal daran denken: Diocletian erließ ein Edikt, demzufolge sich der Preis für eine Wagenladung Getreide alle fünfzig Meilen verdoppelte. Und aus historischer Quellen kann man errechnen, daß eine Wagenladung Feuerholz nicht über eine Entfernung von mehr als fünfzehn Kilometer gewinnbringend verkauft werden konnte. Nimmt man den Wasserweg aus, waren Transportkosten über Land bis in die jüngste Vergangenheit so groß, daß man besser nichts transportierte, jedenfalls nichts Schwerers oder Sperriges. (Scott 2017:54)
(James C. Scott 2017. Against the Grain. A Deep History of the Earliest States. New Haven & London: Yale UP.)