Füße keine, für Sonne, in Bäumen. Die Schatten der Vögel rollen die Flugbahnen auf, bergen sie anfangs des Winds.
Leere des Raums, zu weit für Schall, zu müde für Wolken. Quitten lösen das Licht, schal wie ein Luftkuß, vom Laub.
Als ich auf die Wiese trat, stieg eben die Nacht vom Rücken der Pferde und hockte sich in den Graben.
Ich sah ihren schwarzen Hut, wie sie ihn ins Wasser tunkte, wie das Wasser davon schwarz wurde und alle Spiegelungen zum Grund sanken.
Die Pferde warteten auf ihren Reiter; der aber kam nicht zurück. Die Zäune drehten sich um, wie Leute, die etwas zu verbergen haben. Von der nahen Stadt her schleppten die Straßen schwer an der Ferne.
Als wäre die Glühbirne kaputt oder nicht mehr vorhanden, die Läden heruntergelassen, und dazu die Spinnweben, der kühle, feuchte Staub, die Zurückhaltung der Stirn, wenn sie eintaucht in diesen dunklen Raum, dessen Tiefe oder Begrenztheit sich nicht sofort erweist, sondern in seiner rätselhaften Verweigerung in die Wege hineinzieht; dazu das Tasten des Lampenstrahls, der, indem er nur Einzelnes und dieses auch noch losgelöst von seinen Zusammenhängen sichtbar macht, mehr, als ein Bild von ihr zu liefern, die Umgebung verunklart; das Gefühl unbewohnter Zimmer, als beträte man ein seit Jahren nicht geöffnetes Kellerabteil, oder eine verdunkelte Dachgeschoßwohnung, die nach dem plötzlichen Ableben ihrer betagten Bewohnerin im letzten Jahrhundert niemand mehr betreten hat: Die Möbel stehen so, wie sie die Mieterin zurückließ, eine Lesebrille liegt noch auf dem Kanapee, der Tee in der Blümchentasse ist zu blättrigen Schüppchen eingetrocknet. Drei Krümel Lavendelblüten auf einem Tellerchen verströmen einen Geruch nach saurer Milch. Das zuletzt gelesene Buch liegt mit der Innenseite nach unten aufgeschlagen über der Armlehne. In einem offenen Schrank schlagen leise die leeren Kleiderbügel aneinander. Die Namen im Adreßbüchlein, zwischen dessen braunen Seiten sich ein gepreßtes Hirtentäschelkraut findet, gehören niemandem mehr. Die Dinge sind verfremdet durch ihr langes Warten. Die Zeit hat das Linoleum ausgetrocknet und die Lampenschirme brüchig werden lassen. Sie hängen vor leeren Gewinden wie die Buchstaben in der Asche einer verbrannten Zeitung. Es ist das Bild der Ordnung einer vergangenen Zeit, die nicht mehr herrscht, ihr fernes Echo. Im Kopfwenden fliegt von der Tür her, vom Flur, ein Lichtreflex über eine Bildverglasung, und für einen Moment ist es, als führte dort ein Fenster in einen Nebenraum, und dahinter wäre eben jemand vorübergegangen.
Ich laufe durch die Ordnungen des Sommers, durch sein fernes Echo von Chlorophyll. Die Blütenstände stehen aufrecht-starr wie vergessene Blumen in der Vase, die Beeren sind fahl wie die gepreßten Projektionen eines Herbariums. Nebel hängt vor den Schemen der Pferde, die auf der Weide stehen wie Koffer mit verstimmten Musikinstrumenten. Während ein Blatt fällt, ein anderes stumm den Mund aufreißt, steigt die plötzliche Furcht in mir auf, ich könnte etwas übersehen haben. Gleich werde ich erschrecken, vor einem geräuschlosen Fund, den ich lieber nicht machen möchte. Wenn ich nur wüßte, was es war, vor dem ich mich in Acht zu nehmen hätte. Es wäre etwas, das gerade eben in den Lampenkegel hereinragt und matt glänzt, undeutbar, bis man das Licht unwillkürlich ganz darauf richtet. Was unter den Füßen wirbelt, Staub, der nicht mehr lebendig ist, verdankt sich nicht der Nachlässigkeit des Jetzt, ist ein Symptom nicht der frischen Unordnung, sondern der Zeit selbst. Etwas, das sie zurückließ, die feine Schlacke ihres Vergehens. Der Lampenstrahl fällt in verlassene Räume, in denen die Nacht darüber wacht, daß alles so bleibt, wie es war, als der Sommer auszog.
Und schon ist die Hitze wieder wie ein Traum. Der Sommer flutet zum Horizont davon und läßt uns die braunen Reihen abgestorbener Fichten zurück. Die Dunkelheit kümmert sich wieder um die Straßen, aber sie kann den Durst nicht lindern. An den Kreuzungen bleibe ich lange stehen. Wie bin ich hierher gekommen? Im Dunst hinter den Stämmen hebt sich ein geschwollenes Augenlid, und ich bin so müde, daß mein Blut für viele Winter reicht.
Und, ah!, wie mich das ärgert. Dieses Wählerische. Die ewige Zurücksetzung. Und daß wir Männer uns immer und immer die Köppe einschlagen müssen, während die Frauen dasitzen, zugucken und am Ende den lädierten Sieger in die Arme schließen dürfen – zumindest so lange, bis ein anderer Herausforderer antritt. Es ist lächerlich. Es ist unwürdig. Es ist empörend. Und daß niemand etwas dafür kann, weil es in der Natur der Sache liegt, das macht es nicht besser, das macht es nur noch viel schlimmer. Auch wenn ich aus dem Alter raus bin.
Hätte ich die zuletzt erwähnte Statistik damals, als ich noch nicht aus dem Alter raus war, schon gekannt, wäre meine Frustration zwar nicht geringer gewesen, aber ich hätte eine Erklärung gehabt, warum es auf der Datingplattform nicht voranging. Vielleicht hätte mich das mit einer Art von befriedigtem Ingrimm erfüllt. Warum ich nie angeschrieben wurde. Warum auf die meisten meiner eigenen Zuschriften nicht einmal eine Ablehnung zurückkam – als wäre schon mein Ansinnen ungebührlich. Als hätte ich nach etwas greifen wollen, das nicht für mich bestimmt war. War es auch nicht, offensichtlich. Aber als ob ihr, liebe Angeschriebene, so unglaublich der Reißer gewesen wärt. Ich habe da meinen eignen Marktwert schon mit eingerechnet, als ich euch und nicht die heiße Schwarze mit dem verruchten Blick angeschrieben habe. Gegen die kamt ihr nämlich auch nicht an. Meint ihr, bei euch gäbe es kein Mittelmaß?
Die Anzahl der Zuschriften auf Datingplattformen ist außerdem auch noch Pareto-verteilt. Jeder, der sich schon einmal gefragt hat, warum das nicht so recht zündet mit dem eigenen Blog, der eigenen Video-Seite, den Strickmustern oder Katzenbildern, hier ist das Geheimnis: Blogs und ganz allgemein Webseiten verhalten sich wie Großstädte, bewaffnete Konflikte, das Jahreseinkommen und die Wörter einer Sprache: Sehr, sehr wenige haben sehr sehr viel, der klägliche Rest verteilt sich dünn ausgestrichen auf die Masse. Sehr wenige Blogs ziehen sehr viele Follower an sich, während sehr, sehr vielen Blogs nur eine Handvoll Leser folgt; sehr wenige Städte haben mehrere Millionen Einwohner, sehr viele Städte nur ein paar tausend; große Opferzahlen findet man bei sehr wenigen Kriegen, in den meisten sterben nur wenige Menschen; nur eine handvoll Wörter führen die Häufigkeit in Texten an, während die meisten Wörter selten sind; sehr wenige Menschen sind stinkreich, aber sehr viele bettelarm. Und eben: Sehr wenige Paarungsbereite bekommen die überwiegende Mehrzahl aller Zuschriften auf einer Datingplattform. Man braucht ein ziemlich dickes Fell, wenn man sich dort tummelt. Spaß macht das nur, wenn man einer der wenigen ist, die den Löwenanteil von Zuschriften bekommen, und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß man das nicht ist.
Frauen auf Datingplattformen, lese ich gerade, sind geneigt, 85% der Männer auf ebendiesen Plattformen als unterdurchschnittlich attraktiv zu beurteilen. Angesichts solcher Statistiken kann man sich jede Romantik von vornherein abschminken. Es geht um Ernährer und Beschützer, um sonst nichts. Mehr noch: Es geht um die besten Ernährer und Beschützer, und da sind die oberen 15% gerade mal eben gut genug. Ich danke den Göttern auf Knien, daß ich solche Tatsachen noch nicht kannte, als ich Anfang zwanzig und auf Brautschau war. Ich hätte es aufgegeben und lieber eine Karriere als Kleriker in Erwägung gezogen. (Andererseits wäre ich vielleicht verblendet genug gewesen, mich als zu den oberen 15% gehörend einzuschätzen. Ich elender Affe. (Kann aber natürlich auch sein, noch einmal andererseits, daß die Zusammensetzung derjenigen Männer, die sich überhaupt auf Datingplattformen anmelden, nicht repräsentativ ist. Dann rekrutiert sich vielleicht der als unterdurchschnittlich beurteilte Anteil der Männer auf den Plattformen überwiegend aus den 50% der unterdurchschnittlich attraktiven männlichen Gesamtbevölkerung.))
Daß der Mensch nie genug hat an der Gegenwart. Wie dieses Reh keine Folge von Momenten kennt, sondern nur den einen Moment, außerhalb dessen es nichts gibt, in dem es mich betrachtet und betrachtet und betrachtet, und daß es mich gleich nicht mehr betrachten, sondern fliehen wird, ist ihm noch gar nicht klar, auch wenn die Möglichkeit der Flucht schon in dieses unendliche Präsens hineinragen muß, andernfalls es nicht wählbar wäre: Aber es ist eben eine Möglichkeit des Jetzt, keine Möglichkeit der Zukunft, es gibt keine Zukunft aus diesem Moment heraus, es gibt nur den Moment mit seinen Optionen, und in diesem Moment sind alle Optionen gleichwertig: Flucht, Ignorieren, Äsen, Stehenbleiben, den Lauscher nach mir ausrichten, und wenn das Reh dann flieht, sind die Momente der Flucht nichts weiter als die Flucht. Das Tier fragt sich nicht, ob es diesmal wohl wieder davonkommen wird, es hofft nicht, und seine Angst ist allumfängliche Angst, für Ewigkeiten ist es auf der Flucht. Bis die Flucht zu Ende ist, so oder anders.
Mühsam die Arbeit der Schatten, das Kreisen um Türme und Zeiger. Wo war der Juni? Umsonst jagten die Segler das Licht.
(SA 5:06; SU 21:42)
Soll ich jetzt noch und noch und noch einen Text über meine Laufstrecken schreiben? Den Acker noch weiter bearbeiten? Ja. Es ist ein Irrtum zu meinen, daß man damit, wie mit überhaupt irgend einem Stück Welt, je fertig würde. Es geht nicht um Ermüdung, die Welt läßt sich nicht ermüden. Reiß dich zusammen, schreib! Es geht um Erneuerung. Es geht um Gründe. Es geht um alles. Jahreszeiten, Flora, Fauna, Landschaften, äußere kartierte, innere unkartierte, Wege ins Dickicht, Wege ins Freie, das Aquarell des Himmels, das Gewicht der Wolken, des Lichts, und alles als Ursache und Grund zu Worten, ihre Rechtfertigung. Oder ist es umgekehrt? Sind die Worte die Rechtfertigung dafür, daß überhaupt etwas da ist? Die Abtragung vielleicht einer elementaren Schuld, die wir am Dasein haben, einer Schuld, die sich nur dadurch sühnen läßt, daß man dichtet?