Weiter im Lucan

In Pompeius' Lager wird das Pferdefutter knapp, den Tieren fehlt es an frischem Gras, sie werden krank und sterben. Eine Seuche breitet sich aus. Wie bei Lucan zu erwarten, gerät die Beschreibung der Symptome zu einer Orgie aus Fäulnis und Eiter. Der knappe Kommentar in meiner Reclam-Ausgabe vergleicht die Stelle mit Vergil, Georgica 464ff und weist darauf hin, die dortige Schilderung einer Milzbrandepidemie in Noricum sei "klinisch exakt". Das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) gibt an, Milzbrand sei "am lebenden Tier selten mit Sicherheit festzustellen" und listet als Symptome auf:

"Beim Rind und Schaf treten meist plötzliche Todesfälle auf. Aus den Körperöffnungen (Anus, Vulva, Mund, Nase) tritt dunkles, schlecht gerinnendes Blut. Erst bei der Zerlegung ist ein Verdacht auf Milzbrand festzustellen. Wenn weitere Tiere mit hohem Fieber, unregelmäßigem Puls, beschleunigter Atmung und evtl. Kolikerscheinungen erkranken, liegt der Verdacht auf Milzbrand nahe. Tierärztliche Behandlung ist nur dann erfolgversprechend, wenn sie frühzeitig einsetzen kann. Beim Pferd: plötzlich hochfieberhafte Erkrankung mit Kolik, Schling- und Atembeschwerden, Atemnot wegen Schwellung im Kehlgangsbereich, auch scheinbare Besserung und Tod nach mehreren Tagen. Beim Schwein können Krankheitserscheinungen am lebenden Tier fehlen, in vereinzelten Fällen sind Atembeschwerden infolge Rechenentzündung sowie Verfärbung und Schwellung im Bereich des Kehlkopfes (Milzbrandbräune) zu beobachten.

Was sagt nun Vergil dazu? Anfangssymptome sind seltsames Verhalten beim Pferd (464--467), dann Durst, Fieber, später Knochenfäule:

... sed ubi ignea uenis
omnibus acta sitis miseros adduxerat artus,
rursus abundabat fluidus liquor omniaque in se
ossa minutatim morbo conlapsa trahebat

"Doch sobald das trockene, feurige Fieber, durch alle Adern getrieben, die erbarmungswürdigen Glieder zusammengezogen hatte, trat hernach reichlich Fäulnis auf und zerstörte die von der Krankheit in sich zusammengefallenen Knochen."

Mh, von aufgeweichten Knochen ist beim BgVV nicht die Rede. Weitere Symptome bei Vergil: zahme Hunde werden tollwütig (496) -- tatsächlich sind Hunde und Katzen wenig anfällig für Milzbrand; keuchender Husten und Atembeschwerden durch verengten Schlund beim Wildschwein (496f); Nahrungsverweigerung und häufiges Aufstampfen beim Pferd, ferner herabhängende Ohren, unregelmäßiges Schwitzen, beim todkranken Tier eiskalter Schweiß (498--501); die Haut wird trocken und spannt sich (501f). Verschlimmert sich der Zustand, tritt ein heller Glanz in den Augen auf, dazu schwerer Atem, Stöhnen, Röcheln, bei dem sich die ganze Flanke anspannt, Blutungen aus der Nase, geschwollene, weiß belegte Zunge (505--508); der Stier bricht mitten auf dem Acker zusammen, spuckt Blut und tut seinen letzten Seufzer (515--517). Hätte Vergil bei der Beschreibung der Seuche in Noricum konkret Milzbrand im Sinn gehabt, dann hätte er Wölfe, Seehunde, Fische, Reptilien und Vögel jedenfalls verschonen müssen (537--547, Milzbrand kommt überwiegend bei Huf- und Klauentieren, nur gelgentlich bei Raubtieren vor; Vögel, mit Ausnahme des Straußes, sind so gut wie rsistent). Wahrscheinlich hat er aber weder Milzbrand im Sinn gehabt (oder eben dasjenige Bündel an Symptomen, von dem wir heute wissen, das es durch Bacillus anthracis verursacht wird), zumal das typischste Zeichen, die schwärzlich verfärbte ("verkohlte", daher der Name) Milz der verendeten Tiere in der Liste fehlt, noch irgendeine andere konkrete Erkrankung: die Schilderungen sind hier wie auch in anderen Texten eine Aufzählung von Stereotypa, deren Ensemble kein identifizierbares Krankheitsbild ergibt, sondern das Bild einer idealtypischen Seuche darstellt.