Weiter im Lucan
Mehr Thessalien (VI 333--412)
Fast neunzig Verse widmet Lucan diesem landeskundlichen Exkurs. Zuerst wird die geographische Lage der Region anhand der sie begrenzenden Gebirgszüge umrissen. Nachdem der Dichter die Entstehung Thessaliens aus einem Sumpf oder See geschildert hat, der einst dem Mythos nach die ganze Region bedeckt haben soll, zählt er die wichtigsten Flüsse auf, die seit der Hebung des Landes aus dem Wasser Thessalien entwässern. Die nächsten beiden Abschnitte sind teils sagenhaften, teils historischen Völkerschaften und Sippen gewidmet. Thessalien ist Heimat der Zentauren, von Iason (der mit dem Vlies), Ion, dem Stammvater der Ionier, der Pythischen Spiele, der Leleger und der Lapithen:
- 333--359 Grenzen, Berge, einzelnde Landschaften und Städte
- 360--380 Flüsse
- 381--394 mythische Völkerschaften; Leleger, Zentauren
- 395--412 mehr Mythologie, Lapithen, Iason, Ion, Python, die Pythischen Spiele; Aloeus und seine Kinder
Und jetzt also ist Thessalien der Schauplatz (bello quam fata parabant, "den das Schicksal für den Krieg bestimmt hatte") fürs letzte Gefecht. Was für ein Ort.
Sicher dient dieser Exkurs auch dazu, die Spannung zu steigern. Kurz vor der Entscheidungsschlacht halten wir noch einmal inne und studieren die Geographie, Geschichte und Mythologie des Schauplatzes. Ich tue es Lucan nach und zitiere hier noch einmal, weil es so schön war, einen mit griechischen Eigennamen gespickten Abschnitt.
"Zwischen diesen Bergen, in deren Mitte sich das Tal drückt, lagen die Felder einst unter einem ständigen Sumpf verborgen; solange die Ebenen die Flüsse zurückhielten und das Tempe-Tal noch keinen Zugang zum Meer bot, gab es für die Ströme, die den Sumpf füllten, nur einen Lauf: zu wachsen. Nachdem aber das Ossa-Gebirge sich durch die Hand des Herkules vom Olymp getrennt und Nereus die Wucht der herabstürzenden Wasser gespürt hatte, stieg das thessalische Pharsalos, das Herrschaftsgebiet des meerentstammten Achill, das besser unter Wasser geblieben wäre, aus dem Sumpf auf, und außerdem auch Phylake, das als erstes den Strand von Rhoeteum erreichte, Pteleos und das durch den Zorn der Pieriden beweinenswerte Dorion; der Berg Trachin und Meliboea, stark durch die Pfeile des Herkules, den Lohn für eine Leichenfackel, und das einst mächtige Larisa; und die Gegenden, wo man jetzt über dem einst edlen Argos pflügt; wo der Sage nach, von Echion gegründet, das alte Theben lag; wo einst die fliehende Agaue Pentheus' Haupt und Nacken dem Scheiterhaufen übergab und beklagte, daß das alles war, was sie dem Sohn entrissen hatte."
Achill heißt meerentstammt, weil seine Mutter die Meeresnymphe Thetis ist. Nereus, Sohn des Pontos und der Gaia, ist ein alter Meeresgott. Unter Wasser geblieben wäre Pharsalos besser deshalb, weil an diesem Ort Caesar über Pompeius den Sieg davontrug und damit der Römischen Republik das Ende bereitete. Protesilaos aus Phylake war der erste aus dem griechischen Heer, der vor Troja (an einem Felsen namens Rhoeteum) an Land sprang. Dorion ist der Ort eines Sangeswettstreits zwischen einem Sänger namens Thamyris und den Pieriden, einer Gruppe von sieben Musen. Man weiß aus Erfahrung, wie solche Wettkämpfe auszugehen pflegen. Meliboea ist der Geburtsort des Helden Philoktetes, der von Herkules seine vergifteten Pfeile erhielt zum Lohn dafür, daß er Herkules' Scheiterhaufen in Brand setzte. Agaue wiederum zerriß ihren eigenen Sohn in dionysischer Verzückung, (Sie wurde bestraft, weil sie die Mutter des Dionysos, Semele, geschmäht und seine göttliche Abkunft angezweifelt hatte).