Weiter im Lucan
Geographischer Exkurs. Flußnamen
Eine der Pflichtübungen für jeden römischen Epiker (oder Elegiker, wie Ovid) ist der Einbau möglichst vielsilbiger griechischer Eigennamen in den lateinischen Vers. Besonders rühmliche (oder abschreckende, je nach Geschmack) Beispiele für das Ergebnis solcher Silbenjonglagen finden sich in den Metamorphosen, etwa der Hundekatalog in der Actaeon-Erzählung (III, 138–-252) oder der Kampf der Centauren mit den Lapithen (XII, 210–-531), um nur zwei Stellen zu nennen. Ein passender Vorwand für derartige Übungen sind geographische Exkurse über griechische Schauplätze, und die Verlagerung des Geschehens nach Thessalien bietet Lucan die Gelegenheit, seine Versbaukunst ebenso zu entfalten wie seine geographische und mythologische Gelehrsamkeit unter Beweis zu stellen. Schauen wir mal in ein solches Kunststückchen rein (VI, 360--377):
"Folglich entleerte sich der entzweigerissene See in vielen Strömen. Klaren Wassers, aber von geringer Strömung, fließt der Aias nach Westen und ins Ionische Meer. Nicht schneller gleitet der Vater der entführten Isis dahin, und der Fluß, der beinahe dein, Oineus, Schwiegersohn geworden wäre, verschlammt die Echinaden mit seinen fetten Fluten, während, von Nessus' Blut besudelt, der Euhenos das Calydon Meleagers durchläuft. Der Spercheios stürzt sich in den Malischen Golf, und mit klarem Strom bewässert der Amphrysos die Weiden, wo Phoibos einst Dienst tat. Asopos, Phoinix und Melas entspringen hier und der Anauros, der weder feuchte Nebel noch von Tau triefende Luft noch lauen Wind verbreitet; und schließlich die ganzen Flüsse, die das Meer nicht selbst kennenlernen, sondern ihre Wasser dem Peneios geschenkt haben. Es strömt, seiner Wirbel beraubt, der Apidanos und der Enipeus, der erst nach seiner Vereinigung schnell fließt. Als einziger verteidigt der Titaresos seine Wasser, nachdem er zum Namen eines anderen Gewässers gelangt ist: Auf dem Peneios dahingleitend nutzt er dessen Strömung wie trockenes Land."
Isis, Oineus, Euhenos, Spercheios, Asopos, Phoinix, Melas, Apidanos, Enipeus ... ächz! Man wird in solchen Passagen immer ein bißchen an Evelyn Hamann erinnert, die in der berühmten Fernsehansage tapfer beim Versuch scheitert, die englischen Orts- und Personennamen richtig auszusprechen.
Aber Lucan reiht hier nicht nur griechische Namensungetüme wie Lastkähne aneinander; eine zweite Aufgabe bei solcher Artistik ist es, besonders viele historisch-mythologische Anspielungen unterzubringen. Die Tochter des Flußgottes Inachos, Io, wurde von Zeus, na ja, vergewaltigt und dann, um die Spuren seiner Verfehlung vor Hera zu beseitigen, in eine Kuh verwandelt, die von der eifersüchtigen Göttergattin in Gestalt einer Dasselfliege um den halben Erdball gejagt wird, bevor sie am Nil wieder ihre menschliche Gestalt zurückerhält. Sie wird oft mit der Götting Isis identifiziert. Der Flußgott Acheloos war der unterlegene Mitbewerber des Herkules um die Hand der Deianeira, der Tochter des Oineus, daher also nur beinahe ein Schwiegersohn. So erwähnt Lucan den Fluß, ohne seinen Namen zu nennen. Auch Nessus ist mit der Deianeira-Herkules-Geschichte verbunden: Der Centaur, der dem Paar seine Hilfe bei der Überquerung des Flusses Euhenos anbietet, dann aber Deianeira zu entführen versucht, wird von Herkules bei der Überquerung getötet, weshalb also die Wasser des Flusses von Nessus' Blut besudelt sind. (Übrigens ist das der Nessus mit dem ~hemd.) Calydon ist die Heimat von Oineus, dessen Sohn Meleager den kalydonischen Eber tötete, deshalb ist also Calydon "meleagrisch", meleagrea. Das mit dem diensttuenden Apoll (Phoibos) wiederum ist so: nach einer Erzählung (Eoien, Fr. 64) werden die Kyklopen, Zeus Hauptlieferant für Blitze, von Apoll getöt, worauf dieser neun Jahre lang dem Admetos (natürlich in Thessalien) dienen muß.