Weiter im Lucan
Hunger
Beide Seiten, Caesar wie der eingeschlossene Pompeius, verleben nicht gerade supergute Tage. Krankheit bei den Belagerten, Hunger bei den Belagerern: Caesar scheint vom Nachschub abgeschnitten, das Korn ist noch nicht reif, die Soldaten darben. Wie schon beim großen Durst von Ilerda verwendet Lucan einige Sorgfalt auf die Beschreibung des Hungers: die Männer fallen über Viehfutter her, riskieren Vergiftungen, indem sie unbekannte Pflanzen kosten, pflücken Blätter von den Sträuchern und zwingen die kaum den Namen verdienende Speise durch wunde Kehlen hinunter.Aristie des Scaeva (VI 140--250
Und eine Aristie lateinischer Syntax zugleich:
"Die Stellung, die Fortuna nicht mit tausend Geschwadern und dem ganzen Heer Caesars nicht wegnehmen würde, entriß ein einzelner Soldat den Siegern und verhinderte die Einnahme und behauptete, solange er Waffen in der Hand halte und noch nicht niedergestreckt sei, solange habe Magnus nicht gesiegt." (140--143)
(Man würde in einer deutschen Textausgabe wohl nach locum zur Abtrennung des vorangestellten Relativsatzes ein Komma setzen. Vorangestellte Relativsätze sind im deutschen höchst ungewöhnlich, in lateinischer Poesie -- weniger in der Prosa -- aber recht gebräuchlich. Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los ist ein Beispiel im Deutschen. Im vorliegenden Textbeispiel: quem ... noch auferret Fortuna locum, [eum] victoribus eripuit "Den Fortuna nicht fornehmen würde, den Ort, [den] entriß er den Siegern" -- Das ist aber noch nichts gegen die wirklich vertrackten Stellen im Lucan, wir kommen noch dazu.)
Der Name Scaeva (ein sprechendes Cognomen, scaevus bedeutet "links") läßt aufhorchen. War da nicht schon einmal was mit einem Linkshänder? Scaevola hieß der Mann, ein Held der Frühzeit Roms. Seinen Namen trägt er seit dem Verlust seiner rechten Hand, die er als Gefangener im Lager des Lars Porsenna, eines Feindes der jungen Republik, in ein Kohlebecken hält, bis sie verbrannt ist: "Wir haben hunderte solch unerschrockener Männer", erklärt er kaltblütig dem feindlichen König. -- Nun ist der Name Scaeva zwar bei Caesar belegt. Aber nichts hindert den Dichter daran, auch hier eine Ätiologie einzuführen: Diesmal besteht die Unerschrockenheit darin, daß der Held seinen Schild wegwirft, um auch mit der linken Hand kämpfen zu können. Es soll nicht heißen, er habe schuldhaft sein Leben gerettet, weil er sich mit der Linken, dem Schildarm, geschützt habe anstatt auch mit dieser Hand zu töten.
Schutzlos und allein gegen ein ganzes Heer antretend, ist Scaeva bald von Pfeilen gespickt, so dicht, daß weitere Pfeile nicht mehr durchdringen.
"Schon hält nichts mehr von den ungeschützten Organen ab außer den Speeren, die schon in den äußeren Knochen stecken." (194f)
Ein Geschoß bleibt in Scaevas Auge hängen -- er reißt Pfeil mitsamt dem Auge heraus und trampelt zornig darauf herum. Die ganze Schilderung kippt ins unfreiwillig Komische; wie Scaeva einfach nicht unterzukriegen ist, hat etwas Ritter-der-Kokosnuß-Haftes: "Das ist nur ein Kratzer, schlag zu, du Feigling!" Andererseits aber erleben wir einen verzweifelten Menschen mit suidizaler Tendenz. Die Verbiestertheit, mit der Scaeva die Stellung hält, bis Verstärkung eintrifft, auf jeden Schutz verzichtet, ja, sich selbst gar nicht erlaubt, zu überleben, weil das nach seiner Auffassung eine Schande wäre, ist weniger Todesverachtung als vielmehr Todessehnsucht:
"Schon birgt er die Brust nicht mehr mit dem Schild, und aus Sorge, man könne von ihm glauben, er sei hinterm Schild und mit dem Schildarm untätig gewesen und durch seine eigene Schuld am Leben geblieben, geht er so vielen Wunden allein entgegen und sucht sich, einen dichten Wald [von Speeren] in der Brust tragend, einen der Feinde aus, auf den er, schon mit wackeligen Beinen, fallen kann." (202--206)
Und noch was ganz was anneres
Vor vielen Jahren stritt ich mich mit einer Kommilitonin um die Frage, ob öffentliche Leihbibliotheken auch einen Bildungsauftrag haben (sollten) und daher einen gewissen Kanon anbieten müßten (meine Ansicht), oder ob sie, da aus Steuergeldern finanziert, den Geschmack eben dieser Steuerzahler bedienen müßten (die Ansicht der Kommilitonin; meine eigene: wer Schund will, soll dafür bezahlen). Anlaß zu dem Gespräch war meine Entrüstung darüber, daß die fragliche Stadtbibliothek den vielgelobten Klassiker der Wissenschaftsgeschichte The making of the atomic bomb von Richard Rhodes, nein, nicht nicht im Bestand hatte, sondern das ehemals im Bestand befindliche Exemplar, na ja, aus dem Katalog gestrichen hatte. An dieses Gespräch mußte ich heute früh denken, als ich glucksend vor Vergnügen dieses Zitat las. Hahaha! Trivialität im Endstadium, das freut mein bildungssnobistisches Herz.