Lukan beiseite, finde ich bei der ganzen Seuchengeschichte noch ein Detail bei Vergil interessant. Dort spricht der Dichter im Zusammenhang mit erkrankten Tieren davon, daß Opfertiere vor dem Altar zusammenbrechen, noch bevor der Priester den Schnitt hat machen können; daß das Fleisch auf dem Altar nicht brennen will; und daß die Eingeweide unbrauchbar für die Schau sind:
"Zwischen den zögernden Opferdienern sackte das todkranke [Opfertier] in sich zusammen, als hätte es der Priester zuvor geschlachtet"
"Aber der hinzugezogene Seher vermag keine Antwort zu geben, und kaum daß die eingesetzten Opfermesser vom Blut benetzt werden."
Na, das erinnert doch stark an Ovid (Metamorphosen VII 6000f): 596--599
"Die befallenen Eingeweide besaßen keine Zeichen der Wahrheit mehr und der Mahnungen der Götter: die böse Seuche war bis in die inneren Organe vorgedrungen."
Und, bis einzelne Wörter hinein (suppono/subicio; cado/collabor; cultrum; tingo):
"Ich selbst wollte Jupiter um meinetwillen, um der Heimat, des Stamms, der Kinder willen opfern: da stieß das Opfertier ein schreckliches Brüllen aus, brach plötzlich und ohne jeden Schlag zusammen, und nur spärlich netzte das Blut die daruntergehaltenen Messer."
Und weiter, zwar nicht mit wörtlichen, aber doch überzufälliigen Parallelen:
Vergil (Georg. III 498f):
"Das Pferd, der siegreiche Renner, denkt weder an seinen früheren Eifer noch an die süßen Gräser ..."
Ovid: (Met. XII 542ff)
"Das schnelle Pferd schmälert den großen Ruhm und die Siegespalme, vergißt seine alten Erfolge und stöhnt, zum Sterben bereit, am Gatter."
Es gibt aber noch weitere Verbindungen. In der westlichen Welt dürfte Thukydides' Schilderung der Pest von Athen während des Peloponnesischen Krieges eine der ersten um Exaktheit bemühten Beschreibungen einer Epidemie und ihrer Folgen darstellen. Der Autor gilt als Begründer der wissenschaftlichen, quellenbasierten um Objektivität bemühten Geschichtsschreibung und steht weder im Ruf zu übertreiben noch, mit den Fakten zugunsten literarischer Topoi, na, sagen wir, kreativen Umgang zu pflegen. Auf seine Angaben sollten wir uns also verlassen können. Nach seiner eigenen Aussage:
"Und für die Zuhörer wird die wenig ausgeschmückte Darstellung eher weniger ein Lesegenuß sein: Wenn aber die, die das Geschehene und die nach menschlichem Maß gleiche oder sehr ähnliche Zukunft klar erkennen wollen -- wenn die meine Arbeit für nützlich halten, dann mag es genug sein. Dieses Werk ist als dauerhafter Gewinn gedacht gewesen, nicht als Kunststückchen, das nur als Unterhaltung für den Moment dient."
Thukydides, der nach eigenen Angaben selbst erkrankte (2,48), schildert in seinem Geschichtswerk (Peloponnesischer Krieg, 2,47--54) eine Seuche, die in den Jahren 430--426 v. Chr., während des Peloponnesischen Krieges zwischen Athen und Sparta in Athen grassierte. Obwohl der Autor es in seiner Schilderung der Krankheitszeichen und des Krankheitsverlaufs an Genauigkeit nicht fehlen läßt, ist es bislang nicht gelungen, die geschilderten Symptome irgendeiner der modernen Medizin bekannten Krankheit zuzuordnen. Vermutungen reichen von Ebola bis Salmonellose; überzeugen kann keiner dieser Vorschläge. Die Symptome sind laut Thukyides wie folgt: Die Krankheit beginnt mit Hitzegefühl im Kopf (Fieber?), es folgen gerötete, entzündete Augen; blutende Entzündung der Rachen- und Zungenschleimhaut; Mundgeruch; auf diese Anfangssymptome folgen Niesen, Heiserkeit, Schmerzen in der Brust, Husten; geht die Krankheit auf den Magen über, folgt Erbrechen und sehr schlechtes Allgemeinbefinden; oft unproduktiver Würgreiz, Bauchkrämpfe; äußerlich kein Fieber (?), rote oder gelbliche Verfärbung der Haut, Pusteln oder kleine Geschwüre; Gefühl von Hautbrennen, Aversion gegen Berührung, Kleidung oder Decken werden als unerträglich empfunden; Bedürfnis nach Kühle, die viele in Brunnen springen läßt; unerträglicher, unstillbarer Durst; Unruhe, Schlaflosigkeit; wo der Tod nicht nach sieben oder acht Tagen eintritt, breitet sich die Krankheit weiter nach unten aus und führt zu Geschwüren und heftigem Duchfall, in der Folge zu einer Schwächung des Organismus, die meistens tödlich ist. Die Krankheit beginnt am Kopf und wandert im Körper nach unten; wo sie nicht tödlich verläuft hinterläßt sie Spuren an den Extremitäten, den Fingern, Zehen oder Geschlechtsorganen oder sogar den Augen; manche überleben nur unter Verlust eins oder mehrerer dieser Körperteile; wieder andere erleiden eine totale Amnesie bei Gesundung und wissen nicht mehr, wer sie sind.
Nun, wäre Thukydides nicht Thukydides, würden wir sagen, was hat der denn geraucht. Die Zusammenstellung scheint ein bißchen zu illuster, um als Beschreibung eines echten Krankheitsbildes zu taugen. Aber das mal beiseite, darüber sollen, um es mit den Worten des Historikers selbst zu sagen, "andere Autoren, seien es Laien oder Experten, sich den Kopf zerbrechen". Tatsächlich gibt Thukydides selbst zu, daß die "Art dieser Krankheit jeder Beschreibung spottet" (κρεῖσσον λόγου, 2,50,1).
Ich möchte Thukydides noch ein bißchen folgen und weitere Beobachtungen im Umfeld der Krankheit aufzählen. Da ist zum einen zu nennen, daß Aasfresser die Seuchentoten entweder meiden oder nach dem Genuß derselben zugrunde gehen. Eine Ursache ist nicht auszumachen, eine Behandlung, die überall anschlüge, gibt es nicht, was dem einen hilft, verschlimmert den Zustand eines anderen. Die körperliche Konstitution scheint unerheblich, schwache wie kräftige Naturen erkranken und sterben. Ärztliche Zuwendung und Pflege durch Nahestehende verbreiten die Seuche am schnellsten. Wer nicht an der Krankheit stirbt, stirbt möglicherweise an Vernachlässigung, weil sich niemand mehr traut, Umgang mit Erkrankten zu pflegen. Einzig Genesene kümmern sich und geben den Kranken Hoffnung, denn wer die Krankheit einmal hatte, ist entweder immun oder entwickelt nur schwache Symptome. Flüchtlingsströme in die Stadt aufgrund des Krieges verschlimmern die Situation: bald liegen Leichen übereinandergestapelt herum und halbtote Kranke schleppen sich durch die Straßen, um zu den Brunnen zu gelangen. Auch die Tempel füllen sich mit den Leichen derer, die dort Unterkunft gesucht haben. Man kommt nicht mehr nach mit den Beerdigungen, die Rituale werden vernachlässigt, es kommt zu unschönen Szenen: manche werfen ihren Toten auf den Scheiterhaufen eines Fremden und kommen dessen Angehörigen zuvor, indem sie ihn in Brand setzen; andere werfen ihren Toten zu einem schon brennenden dazu.
Soweit Thukydides. Auch wenn man dem Historiker nicht vorwerfen mag, daß er bei seinen Schilderungen Rückgriff auf Topoi genommen habe, so könnte doch er selbst die Grundlagen für Topoi bei späteren Autoren gelegt haben?
Zum Beispiel bei Ovid. Liest man dessen Schilderung der Pest auf Ägina im siebten Buch der Metamorphosen, kann man nicht umhin anzuerkennen, daß Ovid seinen Thukydides im Kopf gehabt habe. Die Parallelen sind dabei so zahlreich und so spezifisch, daß ich nicht glauben kann, daß sie einfach der ähnlichen Natur solcher Ereignisse geschuldet seien. Daß an einer Seuche verendete Tierkadaver von Aasfressersn in Ruhe gelassen werden, mag noch als allgemeine Beobachtung durchgehen (Met XII 549f):
"Ich werde jetzt wundersame Dinge berichten: Hunde, gierige Geier, ja die grauen Wölfe rühren [die Kadaver] nicht an"
Doch schon die Symptome stimmen in Details überein, die vielleicht nicht unbedingt zur "typischen" Seuchenausstattung gehören (XII 554--557):
"Zuerst brennen die Eingeweide, Röte ist das Zeichen der verborgenen Flamme und schwerer Atem; vom Feuer schwillt die rauhe Zunge, der vom heißen Atem trockene Mund steht offen, so schnappen sie nach der verpesteten Luft."
Sogar die Thukydideische Beobachtung der Überempfindlichkeit der Haut taucht wieder auf (558f):
"Sie ertragen keine Matratze, keine Decke, sondern drücken ihre Brust nackt auf die Erde."
Daß die Ärzte sich am schnellsten anstecken und ihnen ihre Kunst zum Verhängnis wird, dürfte auch vor und nach Thukydides beobachtet worden sein und zur Grundausstattung gehören. Aber das Folgende ließ schon bei Thukydides als mögliche Übertreibung aufhorchen:
"Überall sitzen sie ohne jede Scham in Quellen, Flüssen und Brunnen, aber sie löschen durch das viele Trinken den Durst nicht mehr, bevor sie sterben."
Und das hier ist schon fast abgeschrieben:
"Teils sieht man sie mehr tot als lebendig durch die Straßen irren, solange sie noch auf zwei Beinen stehen können."
Und sind die fremdgenutzten Scheiterhaufen bei Thukydides nicht eine Steilvorlage für den morbiden Humor eines Ovid? In der Tat, das sind sie (606--610):
"Die Leichen werden nach keinem ordentlichen Ritus mehr bestattet (die Stadttore hätten so viele Leichenzügen gar nicht zu faassen vermocht): Entweder sie liegen auf der Erde herum oder man wirft sie umstandslos auf den Scheiterhaufen. Ehrerbietung gibt es keine mehr, man streitet sich um die Haufen und brennt auf fremden Feuern."
Möglich bleibt natürlich, daß es Texte zwischen Thukydides und Ovid gibt, die allmählich als Tradition das begründen und verfestigen, was dann bei Ovid (und Vergil) als Topos benutzt wird. Da müßte man mal ein bißchen weitergraben.