Weiter im Lucan
Eine sprachliche Auffälligkeit hat VI 77: descendit ... si nusquam torqueat amnem "Wie [der Tiber] von Rom zum Meer hinabsteigt/-stiege, würde er nirgends seinen Lauf krümmen." Diese Syntax, die in der Apodosis gegen die lateinische Schulgrammatik ein Vergangenheitstempus im Indikativ hat und den Konjunktiv nur in der Protasis, kommt gar nicht so selten vor. Mir fallen auf Anhieb zwei Stellen im Livius ein und eine oder mehrere im Ovid. Muß die mal bei Gelegenheit heraussuchen. (Ob das griechischer Einfluß ist? Aber da gibt es im irrealen Bedingungsgefüge eigentlich gar keinen Konjunktiv, nur Imperfekt Indikativ und Aorist Indikativ mit ἄν.)
Caesar und Pompeius lagern also in Rufweite voneinander. Caesar versucht, seinen Gegner zu provozieren, aber der hält still. Schließlich reißt Caesar der Geduldsfaden, er beschließt, Dyrrhachium (heute die Küstenstadt Durrës) einzunehmen. Pompeius kommt ihm aber zuvor, errichtet auf einer Anhöhe sein Feldlager und organisiert die Verteidigung der Stadt. Da Dyrrhachium auf einem Felssporn liegt, den nur eine schmale Landbrücke mit dem Festland verbindet, ist die Stadt schwer einzunehmen. Aber Caesar wäre nicht Caesar (und hätte niemals Gallien erobert), wenn ihm dazu nichts einfiele: er läßt einen Wall um die ganze Gegend legen und kesselt Pompeius ein. Caesar ist nicht bekannt dafür, zu kleckern: laut eigenen Angaben war der Wall, dem Gelände folgend und mit Wachttürmen ausgestattet, fünfundzwanzig Kilometer lang. Wir brauchen die lucanische Übertreibung nicht, die Länge des Walls sei nicht an einem Tag abzureiten gewesen, um das beeindruckend zu finden.
Die Erzählerfigur ist allerdings mehr von der immensen Verschwendung an Material und Arbeitskraft beeindruckt: Was hätte mit dem gleichen Aufwand nicht Nützliches geschaffen werden können! Caesar hätte den Bosporus zuschütten oder die korinthische Landbrücke zur Peloponnes durchschneiden können, wenn es nicht vorgezogen hätte, sein Organisations- und Führungstalent für Kriegsspielchen zu vergeuden. Die beiden Vergleiche sind interessant: der eine evoziert sogleich die tragische Geschichte von Hero und Leander, die eine verbotene Liebe verbindet. Hero lebt am westlichen Ufer in Sestos, Leander auf der anderen Seite in Abydos. Da sie sich nur heimlich treffen können, schwimmt Leander Nacht für Nacht über die Meerenge, wobei ihm ein von Hero unterhaltenes Licht im Turm den Weg weist. Eines Nachts aber löscht der Sturm das Licht, Leander verirrt sich und ertrinkt. Als Hero anderntags seine Leiche am Ufer findet, stürzt sie sich vom Turm in den Tod. Da bei Lucan beide Orte genannt werden, ist das geradeso, als hätte er Hero und Leander namentlich erwähnt. Und dann war ja noch Helle mit dem Bruder Phrixos auf der Flucht vor ihrer Stiefmutter Ino in die Meerenge gestürzt. So gesehen ist es also ein Desideratum, wenn die blöde Wasserstraße endlich durch einen sicheren Damm überbrückt wäre.
Schön ist auch der zweite Vergleich: der Durchstich durch die Landbrücke von Korinth. Kein Geringerer als Kaiser Nero, amtierender Princeps zur Zeit Lucans und für dessen frühen Tod verantwortlich, soll ja 67 einen solchen Kanal angeordnet (Flavus Iosephus, Geschichte des jüdischen Krieges 3,10,10) und auch den ersten Spatenstich getan haben (Sueton, Nero 19). Wenn Lucan jetzt behauptet, Caesar hätte das gekonnt, wenn er nur gewollt hätte, dann kann man darin durchaus eine politische Spitze gegen Nero lesen, zumal auch Nero wie alle Principes seine Alleinstellung an der Spitze in langer Linie Caesars, na ja, Putsch verdankt. Zu sagen, hätte Caesar mal lieber den Kanal gebaut, bedeutet in diesem Licht betrachtet ja auch, dann hätten wir jetzt einen hübschen Kanal anstelle eines häßlichen Prinzipats.
Tatsächlich hat Caesar einen Kanal durch den Isthmus von Korinth (viele th auf einmal) gebaut. Na ja, geplant zu bauen. Bauen wollen. (Sueton, Caesar 44; Plutarch, Caesar 58,4) Über das Planungsstadium scheint das nicht hinausgekommen zu sein.
Um noch ein bißchen weiter zu spekulieren: Der Vergleich mit dem Verweis auf die Mythologie bedeutet ja auch, daß, hätte es damals schon einen Caesar gegeben, Helle mit Phrixus trockenen Fußes fliehen und Leander seine Schuhe anbehalten hätte können, wenn er Hero besuchen wollte. Der Mythos kennt -- für Menschen zumindest -- die Grenzen der Natur, und selbst die Götter haben keineswegs Allmacht, sondern müssen mit dem Material arbeiten, das halt vorhanden ist, Regen, Wind, Erde, Blitze. Mit Ingenieursleistungen, wie sie Lucan einem Caesar zuzutrauen geneigt ist, wird die Natur bezwungen, wird auch die Welt des Mythos überwunden, schwingt sich der Mensch selbst zu den Göttern empor. Was ist schon ein fliegender Widder gegen die Trockenlegung der Dardanellen? Solche Leistungen bedeuten aber auch eine entzauberte, eine mechanisch beherrschbare Welt. Einer solchen Welt werden keine Geschichten mehr wie die von Helle oder Hero und Leander entstammen. Am Ende ist aber auch Lucans eigenes Werk von ganz anderer Art als es noch die Aeneis war, findet sich doch darin vom Walten der Götter keine Spur mehr, ist die Natur Natur, müssen die Helden mit menschlichem Einfallsreichtum, mit menschlicher Technologie auskommen. Im Zusammenhang mit Caesars Erdwerk ist ganz explizit von Naturbeherrschung die Rede. tot potuere manus ..., heißt es VI 55--60, "so viele Hände hätten ... jeden beliebigen Ort der Welt, auch wenn sich die Natur dagegengestellt hätte, in einen besseren verwandeln können." Daß die Menschen mit irdischer Technologie so viel Erstaunliches erreichen, ist umso tragischer, als sie es mit den falschen Zielen tun. Der menschliche Genius überwand zwar den Mythos, aber er überwand nicht den Menschen.
Ein bißchen Opernkritik
"Einer der Höhepunkte der vierstündigen Materialschlacht von zweifelhaften Gags, ist der Auftritt von Don Ottavio (Michael Spyres), wenn er Dalla sua pace singt. In seltsamer Verkleidung, als norwegischer Polarforscher, mit einem Pudel an der Leine. Muss ich noch den überdimensionalen Photokopierer erwähnen, den Leporello braucht, um die Registerarie zu singen? Oder die kleine Ratte, die irgendwann auf die Bühne scheißt? Sie brauchen jetzt die Wiener Tierschutzbund nicht anzurufen, es ist eine handzahme Ratte, und sie hat eine Tierpflegerin hinter der Bühne. Die Ziege auch."
Den ganzen köstlichen Verriß gibt es hier.