Weiter im Lucan

Die Versuchung ist groß, die Abschiedsszene zwischen Pompeius und Corinna Metella mit einer anderen, mit der Abschiedsszene der antiken Dichtung zu vergleichen, ich meine natürlich die Abreise des Aeneas aus Libyen und seine Trennung von Dido. Die Versuchung ist deshalb groß, weil erstens Vergil mit seinem Stand als "Nationaldichter" der Römer einen ungeheuren Einfluß auf spätere Autoren hatte. An Vergil kommt einfach niemand vorbei. So lassen sich denn auch bis in einzelne sprachliche Wendungen hinein Anklänge an und Parallelen mit Passagen aus Vergil auch sonst im Lucan ausfindig machen. Die Aeneis hat aber nicht nur ganz allgemein kraft ihrer immensen Wirkung als Nationalepos sondern auch ganz konkret einen inhaltlichen Bezug zum Bürgerkrieg, da die Zukunft Roms -- die eigene Gegenwart des Dichters, der in den Turbulenzen der römischen Bürgerkriege aufwuchs -- dem Helden der Aeneis geweissagt, und darin auch das Prinzipat des Augustus als End- und Zielpunkt der römischen Geschichte wie sie im brennendesn Troja begann und mit der Zeit nach der Schlacht bei Actium -- sozusagen als "Ende der Geschichte" -- zur Erfüllung gelangte, verkündet wird. Und ohne den Krieg zwischen Caesar und Pompeius hätte es ja niemals einen Octavian geben können.

Um mit den Gemeinsamkeiten anzufangen: In beiden Szenen geht es um einen Abschied zwischen Mann und Frau, die eine Liebe verbindet; in beiden Szenen wird der Abschied vom Mann initiiert und gegen den Willen der Frau vollzogen; in beiden bleibt der Frau nur, sich zu fügen; in beiden Szenen ist völlig klar, daß die Entscheidung des Mannes unumstößlich ist.

Größer sind die Unterschiede: Aeneas ist blinder Befehlsempfänger der Götter, Pompeius will das Beste für seine Gattin; die Abreise von Karthago ist ein Bruch mit Dido für immer, Pompeius hofft, seine Frau günstigenfalls als Sieger, oder doch zumindest als Flüchtling wieder in die Arme schließen zu können; Dido gibt sich den Tod, Cornelia wird nicht nur diesen Abschied sondern Schlimmeres ertragen; Pompeius eröffnet Cornelia seinen Entschluß von sich aus, Aeneas muß erst von Dido zur Rede gestellt werden; die Liebe zwischen Aeneas und Dido scheitert, die zwischen Pompeius erfährt eine harte Prüfung; letztendlich darf die Beziehung zwischen Pompeius und Cornelia als gelingend aufgefaßt werden, während die zwischen Dido und Aeneas -- nicht nur, weil letzterem gar nichts anderes bleibt, als dem Ruf der Götter zu folgen -- scheitert, ausweislich der Art, wie Aeneas in der Abschiedsszene mit Dido umspringt ("ich habe dir nie die Ehe versprochen." "Laß mich mit deinem Gejammer zufrieden."). Man fragt sich, wie Pompeius an Aeneas' Stelle gesprochen hätte, sicher ganz anders, wenn man sein Verhalten gegenüber Cornelia zum Maßstab nimmt. Im übrigen ist auch dem Dichter der Aeneis sein eigener Titelheld hier nicht ganz geheuer; denn als Aeneas bei seinem Abstieg in die Unterwelt Didos Schatten begegnet und sie um Verständnis bittet, verweigert sie ihm das Wort und den Blick und wendet sich ab.

Nun möchte man ja einen Bezug nicht allein aufgrund eines einzelnen Wortes herstellen; da es mir aber ins Auge stach und wir hier ja unter uns sind, mache ich es trotzdem. Das Wort ist querela "Klage". In der Aeneis (IV 360) steht es am Ende der Rede des Aeneas, mit der er sich gegen Didos Vorwürfe verteidigt: desine meque tuis incendere teque querelis "Hör auf, mich und dich mit deinen Klagen noch aufzuregen." Bei Lucan verwendet dasselbe Wort die Erzählstimme (V 761): Tandem vox maestas potuit proferre querellas "Endlich vermochte ihre Stimme, die traurige Klage vorzubringen." Man ist, wie gesagt, versucht zu ergänzen: die an dieser Stelle fällige (von Dido bekannte) Klage vorzubringen; Cornelias Version derselben Klage; das, was Cornelia an dieser Stelle kraft der ihr zugeschobenen Rolle sagen muß, ihre Dido-Klage. Der Anklang wird noch dadurch verstärkt, daß das fragliche Wort bei Lucan an der gleichen Stelle im Vers vorkommt wie bei der Vergleichsstelle im Vergil.

Tja, vielleicht ist das aber auch reiner Zufall und der Anklang unbeabsichtigt. Denn erstens ist querēla/querella (das Wort kommt in zwei bedeutungsgleichen Varianten vor) kein seltenes Wort (nach Logeion ist es das 1956.-häufigste Wort), zweitens kommt es in der Aeneis außer der in Rede stehenden Stelle (IV 360) noch zweimal (nämlich VIII 215; X 94) vor, drittens kommt es bei Lucan außer der in Rede stehenden Stelle noch siebenmal (nämlich II 44, 63; V 681; VII 555, 630; VIII 87, 512, und damit gleich 80 Verse vor der Abschiedsszene in einem ganz anderen Zusammenhang: die Beschwerde der Soldaten, die Caesar Leichtsinnigkeit vorwerfen) vor, und viertens steht die jeweilige Wortform ausnahmslos bei Vergil wie bei Lucan an der gleichen Stelle im Vers. Mit welchem Recht also behauptet man, Lucan lasse ausgerechnet in der Abschiedsszene Vergil anklingen, in den anderen Belegstellen von querela aber nicht? Ehrlicherweise müßte man dann auch nachweisen, daß und warum die anderen Stellen keine Anspielung sind. Doch letzten Endes läßt sich Zufall oder Absichtslosigkeit niemals nachweisen; umgekehrt kann man einen Verweis noch aus den beliebigsten Textstellen herbeikonstruieren.






So was mitzulesen ist keine verschwendete Zeit. Vielen Dank dafür.


Wenn diese Beschäftigung hier wohlwollende Leser findet, ist sie natürlich auch keine Zeitverschwendung. Danke für den netten Kommentar!