Nun ist die Apotheke unterm Uni-Center in der Luxemburger Straße schon fünf, sechs Jahre aufgegeben. Das Schild hängt noch über der Schaufensterfront, eine Liste mit Notfallapotheken ist immer noch neben der Türklingel angebracht, und hinter dem Glas hat sich noch mehrere Jahre lang eine immer mehr ausbleichende Werbung für ein Schnupfenmittel gekrümmt. Irgendwann muß sich jemand, der Eigentümer der Gewerbefläche vielleicht, erbarmt und die Fenster mit Packpapier verhängt haben, auch das ist jetzt schon ein paar Jahre her.
Heute stand ich an der Haltestelle gegenüber und ließ den Blick über die Ladenzeile gleiten, mit jener Langeweile und Trägheit, wie sie einen in Wartezeiten überkommt, die nicht besser zu überbrücken sind als mit interesselosem Schauen. Da gibt es eine Fitneßbude, einen Schnellimbiß mit Libanesischen Spezialitäten, einen Schreibwarenladen mit Postagentur, eine Bäckerei und eben jenen leerstehende Ladenraum, in dem früher die Apotheke war. Wie viele Apotheken, so zeigt auch diese ihre hilfreiche Existenz durch ein rechtwinklig an die Hauswand angebrachtes Zeichen, ein aus Leuchtstoffröhren geformtes Fraktur-A an. Jetzt sah ich, daß das Fraktur-A erleuchtet war. Und nicht nur leuchtete das A, es blinkte auch. Jetzt erlosch es, während an seinem rechten Fuß ein grünes Kreuz aufleuchtete. Dann erlosch dieses, während das A wieder aufblinkte. Und so ging es beharrlich weiter. Und ich fragte mich, ob ich das bislang übersehen habe, oder ob es das erste Anzeichen einer Neueröffnung der Apotheke sei. Aber welcher zukünftige Apotheker setzt als erstes so ein Blinklicht instand, ohne wenigstens die baldige Neueröffnung im Fenster anzuzeigen. Das Fenster war so packpapierblind wie all die vergangenen Jahre auch schon. Oder hatte ich das Leucht-A bislang übersehen? Blinkte es jetzt vielleicht schon sechs Jahre oder länger vor sich hin, beharrlich, tapfer und unermüdlich, starrsinnig oder seinem alten Besitzer sklavisch die Treue haltend, wie ein Hund, der es nicht aufgibt, alle halbe Stunde zur Tür zu laufen und nach seinem Herrchen zu jaulen? Beseelt von einer aberwitzigen Hoffnung auf bessere Zeiten? Daß jemand jahrelang einen elektrischen Mechanismus an einer aufgegebenen Apotheke gewartet haben soll, erscheint völlig absurd. Warum sollte man eine Leuchtreklame, die für nichts mehr wirbt, am Leuchten halten? Wenn es aber ein Versehen war, das Ding vergessen wurde und dann unbemerkt und ohne kaputt zu gehen jahrelang vor sich hin geblinkt hat, dann ist zumindest die Frage, wer all die Jahre die Stromrechnung bezahlt hat.
In der Behörde, der ich meine Arbeitskraft zur Verfügung stelle, werden turnusmäßig alle zwei Jahre sämtliche Leuchtstoffröhren einmal ausgetauscht. Die Überlegung dabei ist, daß es weniger Verwaltungsaufwand bedeutet, die Röhren alle auf einmal auszutauschen, als darauf zu warten, daß sie nach und nach kaputt gehen. Man bestellt lieber ein paar hundert Röhren und klappert alle Gebäude in einem einzigen Arbeitsgang ab, als für jede kaputte Röhre eigens Ersatz zu bestellen und den Schaden Röhre für kaputte Röhre zu beheben. Schließlich muß für jeden Ausfall und jede Reparatur ein Verwaltungsvorgang mit eigener Dokumentation angeworfen werden, und bis die neue Röhre endlich eingetroffen und die alte ausgetauscht ist, sitzt man im Dunkeln (oder im Flackerlicht). Dabei rechnet man damit, daß die allermeisten Röhren mindestens zwei Jahre halten; indem man die Zeit so wählt, daß man garantiert nur gesunde Röhren austauscht, stellt man sicher, daß keine Röhre schon vor dem Generaltausch ausfällt, was ja den Vorteil der Maßnahme wieder zurücknehmen würde. Auf der anderen Seite läßt man sie gerade lange genug brennen, daß der turnusmäßige Austausch nicht teurer kommt als der stückweise Austausch nach Ausfall. Diesen Zeitpunkt zu bestimmen ist ein Fall für Versicherungsmathematiker. Jedenfalls dürfte der Zeitpunkt des statistisch erwartbaren Ausfalls einer Röhre deshalb irgendwo knapp über zwei Jahren liegen.
Umso unglaublicher wäre es, wenn besagtes Fraktur-A jetzt schon mehr als sechs Jahre tadellos blinken würde. Ich schätze die Frequenz des Blinkens für jeweils den Buchstaben und das grüne Kreuz auf zwei Sekunden. Dann hätte sowohl das A als auch das Kreuz in sechs Jahren (6 x 365 x 24 x 60 x 60) / 2 = 94608000 Mal geblinkt. Ein verrückter Gedanke: Daß es zu jeder meiner Lebenssekunden dieser sechs Jahre (und länger), genau einen Blinkzustand des Buchstabens und des Kreuzes gegeben hat. Ich saß auf der Toilette: An, aus, an. Ich drehte eine von hunderten Runden durch den Wald: An, aus, an. Ich war an der Nordsee, an, ich fuhr zur Arbeit, aus, ich schlief, an, aus, ich seufzte nach einem anstrengenden Tag, aus, an, aus, ich ärgerte mich über einen Schüler oder freute mich über eine reizende Lektüre, trank einen Kaffee, bohrte in der Nase, stand unter der Dusche: An, aus, an, aus, an, aus. Während ich dies schreibe: An, aus, an, aus. Und neben diesem einen Blinklicht gibt es ja tausende, wenn nicht Millionen ähnlicher Blinklichter auf diesem Globus, an Baustellen, an Krankenwagen, an Weihnachtsbäumen und als Winterfensterschmuck, auf Hochhäusern und auf Leuchtreklamen aller Art, an Flughäfen und Flugzeugen, an Windkraftanlagen und Fernmeldetürmen, an Masten, an Schiffen, an Computernetzteilen und Müllwagen, alle in minimal anderen Rhythmen, einige vielleicht nur um Nanosekunden verschoben, so daß man erst in Jahrtausenden merken würde, daß sie nicht synchron sind. Stellte man sie alle nebeneinander, es gäbe ein kolossales Geflacker.