In Dottendorf am Quirinusplatz vorbeigegangen. Ich weiß nicht, was mich bewegt, diese Gegend noch einmal aufzusuchen, der Platz mit der Straßenbahnendschleife, der Kirche (an deren Bau, so unübersehbar er doch ist, ich mich nicht mehr erinnere), der Bäckerei, irgendwo muß der Weg nach Friesdorf weitergehen, das kommt mir vor wie ein Ort des Leidens, der Niederlage, des Scheiterns. Die Häuser erzählen mir die enttäuschten Erwartungen an mich selbst wieder, die Straßenführung ist Schauplatz meiner Einsicht in den kolossalen Irrtum über meine Begabungen und Möglichkeiten. Ein Unglücksort, das war er damals nicht, so begegnet er mir jetzt. Aber geht es mir denn besser heute, und was ist das für ein Ort, an dem ich jetzt lebe? Ein Ort kann uns erst etwas über die Zeit, die wir an ihm verlebt haben, zurückspiegeln und verraten, wer wir damals waren, wenn wir ihn lange verlassen und seitdem nicht wieder aufgesucht haben. Wenn wir uns an einen Kirchenbau nicht mehr erinnern oder an einen Pfad hinauf zum Venusbergklinikum. Damals fing ich an, die Rabengeschichte zu bearbeiten, und bis jetzt beschäftige ich mich mit diesem irrwitzigen, stolzen, eingebildeten, hoffnungslosen Projekt und seinen Folgeprojekten. Es ist nicht zu fassen. Und was für kolossal verstiegene Vorstellungen, was für ein aufgeblähtes, eingebildetes Selbstbewußtsein ich damals besaß. Ich kann nicht einmal altersweise darüber lächeln. Ich könnte es, hätte sich mit harter Arbeit der Erfolg doch noch eingestellt; wäre ich zwar von der Wirklichkeit korrigiert worden, wie ein Zennovize lächelnd vom Meister korrigiert wird, dann aber infolge dieser Korrektur doch noch zum Erfolg gekommen, ja, dann könnte ich jetzt milde urteilen über mein damaliges Selbst. Aber ich habe meine Grenzen ja nie akzeptiert. Deshalb kann ich auch keine Lehre daraus ziehen. Deswegen bleibe ich Zennovize, mache keine Fortschritte, trete aus dem Kloster aus. Im Unterschied zu meiner Zeit in der Annaberger Straße kenne ich zwar meine Grenzen inzwischen. Aber akzeptiert habe ich diese Grenzen nie. Und also dieses ganze beschränkte Ich nicht, mit dem mich die Natur ausgestattet hat. Es ist mir nicht genug, ich bin mir nicht genug. Mit dem, was ich habe, weiß ich nichts anzufangen. So sind diese heute aufgesuchten Straßen Orte einer bitteren Einsicht. Umso bitterer war diese Einsicht, als sie auf meine vermeintliche Entdeckung des Schreibens folgte, auf den Höhenflug des Größenwahnsinns, zu dem mich mein Jahr in der Stadt am Ende des Jahrtausends verführt hatte. Und wie ich damals darum gerungen habe, doch noch wer zu sein. Vom größten Stein über immer kleinere Steine, die man alle nicht heben kann; bis man endlich einen Kiesel in der Hand hält und sich für Supermann hält.